Zur Implosion des demokratischen Südafrikas
Klaus Frhr. von der Ropp
Anfang November 2021 fanden in Südafrika Kommunalwahlen statt, die sechsten seit der Abkehr von der Apartheid im Jahr 1994. Nur vier Monate zuvor hatte es in zwei der wichtigsten Wirtschaftszentren, Gauteng und KwaZulu-Natal, schwere Unruhen gegeben, manche Beobachter sprachen sogar von bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Sie wurden zunächst von der Inhaftierung des kriminellen Staatspräsidenten Jakob Zuma (2009-2018), dann aber von einem Millionenheer von seit 1994 noch weiter verarmter schwarzer Südafrikaner ausgelöst. Umso bemerkenswerter war jedoch, dass die Wahlen wie alle anderen früheren Wahlen auf nationaler bzw. Provinz- und Kommunalebene störungsfrei verliefen. Für diese Wahlen war charakteristisch, dass die Wahlbeteiligung derer, die bis 1994 in einem oft blutigen Kampf ihr Wahlrecht errungen hatten, noch niedriger war als zuvor. Nur circa 65 Prozent aller Wahlberechtigten hatten sich registrieren lassen. Und selbst von ihnen nahmen nur 45 Prozent an den Wahlen teil. Der ANC und seine „Allianzpartner“ SACP (South African Communist Party) und COSATU (Congress of South African Trade Unions), zuvor die alles dominierende politische Kraft, gewannen nur noch 46 Prozent der Stimmen. Und das bei einer Wahlbeteiligung von nur knapp 30 Prozent. Auch die stärkste Oppositionspartei, die teils liberale, teils eher sozialdemokratische Democratic Alliance (DA) verlor und kam nur noch auf 22 Prozent (2016: 27 Prozent). Schließlich stagnierte die zweitgrößte oppositionelle Kraft, die EFF (Economic Freedom Fighters) des fähigen Populisten Julius Malema bei gut 10 Prozent. Mit ihrer Forderung, Südafrika nach dem Vorbild des bankrotten Simbabwe umzugestalten, fand die EFF bei der großen Mehrheit der Bevölkerung kein Gehör. Die großen Gewinner waren kleinere, manchmal ethnisch orientierte Parteien wie u.a. die Inkatha Freedom Party traditioneller Zulus und die Vryheids Party unzufriedener weißer Südafrikaner sowie die Action South Africa des DA-Renegaten Herman Mashaba. Die Fragmentierung der politischen Landschaft wirft die Frage nach der künftigen Regierbarkeit vieler Kommunen auf.
Niedergang des ANC
Eine andere Frage ist die nach den Ursachen für den Niedergang des ANC und seiner Allianzpartner. Die Antwort: Das schwarze Südafrika hatte
dem Versprechen des bis 1994 revolutionären ANC, „a better future for all“, zunächst Glauben geschenkt. Ein Versprechen, das angesichts des Niedergangs des Landes heute zynisch anmutet. Angesichts der Plünderung des Staates und der gleichfalls von den fat cats („fette Katzen“) zu verantwortenden epidemischen Korruption sprach der liberalkonservative Geschäftsmann und Politiker Herman Mashaba zu Recht von der einstigen Befreiungsbewegung als der „Partei der Diebe“. Die wichtigste Ursache für den Verfall des Landes ist, dass sich Südafrika in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine geradezu idealtypische liberal-demokratische Verfassung statt einer Verfassung sui generis gegeben hatte.
Misslungenes Engagement Deutschlands
Bei der Aushandlung dieser Verfassung und dem Neuaufbau der Verwaltung spielten deutsche Berater eine herausragende Rolle.1 Die deutschen Berater kamen aus Bundes- und Landesministerien, aus dem Bundestag und Landesparlamenten, vom Bundesverfassungsgericht und Bundesrechnungshof, von Universitäten, aus Kommunen, aus allen sechs politischen Stiftungen, von der Bundeswehr und ungezählten NGOs. Sie hatten allerdings kaum Kenntnisse zu Südafrika. Das galt auch für den hier federführenden Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und seine Beamten, die wie Genscher selbst zuvor nie in Südafrika (oder Namibia) gewesen waren. Noch fataler war, dass niemand von ihnen die Gründe für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie im Jahre 1933 sowie die sehr besonderen Umstände vor Augen hatte, unter denen 1949 im Westen und 1989/1990 auch im Osten Demokratie in Deutschland Fuß gefasst hatte. So überschrieb der südafrikanische Verfassungsrechtler L. M. du Plessis einen in Deutschland publizierten Aufsatz zu Recht mit „German Verfassungsrecht under the Southern Cross. Observations on South African-German interaction in recent history with particular reference to constitution – making in South Africa“.2 Vereinzelt war in Deutschland sogar der unsinnige Satz „You can legislate democacy into existence!“ zu hören. Hintergrund des deutschen Engagements war, dass die Bonner Regierung am 17. Oktober 1978 wegen mangelnder Sachkunde von den federführenden Briten (David Owen) und den USA
- Kritisch zur Rolle Deutschland vgl. Frhr. von der Ropp, Klaus (2021): Mit vereinten Kräften: Letzte Chance einer Stabilisierung des neuen Südafrikas. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZFAS) 3/2021, S. 303-319.
- In: Hufen, F. (Hrsg.) (2008): Verfassungen zwischen Recht und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider. Nomos, Baden-Baden, S. 524-536.
(Cyrus Vance) für gut zehn Jahre aus allen Verhandlungen über die Zukunft Namibias und Südafrikas ausgeschlossen worden war. Damals hatte der südafrikanische Außenminister Roelof Botha den überforderten Genscher schallend ausgelacht. Es sei hier in Erinnerung gerufen, dass die Mitte Oktober gleichfalls in Pretoria anwesenden Vertreter Kanadas (Außenminister Jamieson) und Frankreichs (Staatssekretär Stirn) die Demütigung Genscher stumm hinnahmen. Statt sich mit Genscher zu solidarisieren, ließen sie ihn im Regen stehen. Erst als die weißen Südafrikaner, gezwungen von London, Washington und der zunehmend mit den beiden Westmächten kooperierenden sowjetischen Regierung, 1991 Verfassungsverhandlungen mit den Befreiungsbewegungen aufgenommen hatten, konnte Deutschland wieder eine Rolle spielen.
Affirmative Action oder der Weg in den Abgrund?
Nach der Machtübernahme im Mai 1994 nutzte die Regierung der ANC/SACP/COSATU-Allianz die ihr im Einklang mit der Verfassung zustehende Machtfülle dazu, die aus Zeiten der Apartheid übernommene staatliche Verwaltung nicht nur zu reformieren, sondern faktisch abzuschaffen. Auf demWege der affirmative action und des anschließenden cadre deployment wurde
das Gros der gut ausgebildeten und berufserfahrenen weißen und braunen Staatsdiener entlassen und durch nicht oder kaum qualifizierte schwarze Personen abgelöst. Letztere waren von dem ancien régime nicht ausgebildet worden. Und die Chance eines Neuanfangs ab Mai 1991 wurde vertan. So urteilte die anerkannte, lange Zeit inhaftierte Bürgerrechtlerin Mamphela Ramphele zu Recht, „das heutige Schulwesen ist (noch) schlechter als dasjenige, für dessen Überwindung viele Jugendliche bei den Aufständen von 1976 starben“.3 Diese Politik der neuen Machthaber vollzog sich in allen Ministerien, bei der Polizei, bei Grenzsicherung und Einwanderungskorntrolle, im Justizwesen (inklusive Strafvollzug), in den Streitkräften, in den Kommunalverwaltungen, im Krankenhauswesen und in den Universitäten. Dieselbe Personalpolitik verfolgt die ANC/SACP/COSATU-Allianz in den circa 300 staatseigenen Unternehmen. Die Folge: Chaos! Bekannt wurden die Stromausfälle und der Beinahe-Bankrott der staatlichen Fluglinie. Noch wird zumindest die private Wirtschaft nicht von Gesetzes wegen gezwungen, eine ähnliche Personalpolitik zu verfolgen.
Die Folgen dieser Politik sind massive Kapitalflucht und die Auswanderung von inzwischen weit über einer Million gut ausgebildeter weißer, brauner und auch schwarzer jugendlicher Südafrikaner. Nach alledem verwundert es nicht, dass die Wirtschaftsdaten desaströs sind: Seit Jahren leidet Südafrika unter einem Wirtschaftsrückgang, 7 Prozent im letzten Jahr. Die Arbeitslosigkeit betrug zum Ende des ersten Quartals 2021 zwischen 33 und 43 Prozent. In der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen lag sie bei 63 Prozent. Da das Land ganz besonders unter Covid-19 leidet, werden diese Zahlen heute noch höher sein. Sehr viele Arbeitslose beziehen, wenn überhaupt, nur minimale Sozialleistungen. Umso größer sind die Einkommen und Vermögen der fat cats! So nimmt es nicht Wunder, dass Anfang 2020 auch die dritte und letzte der großen Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Südafrikas auf Ramschniveau herabgestuft hat. Dem renommierten liberalen Johannesburger Institute of Race Relations ist zuzustimmen, als es schon Anfang 2018 in einem Flugblatt feststellte: „South Africa is again at the brink!“
Folgt Südafrika Simbabwe in die Selbstzerstörung?
Kein Außenstehender kann heute die Frage beantworten, welche Konsequenzen die Regierung des durchaus fähigen Staatspräsidenten Cyril
- „Tell my people that I love them…”, Johannesburg, 2012, Centre for Education Policy Development. Mamphela Ramphele (2012): Conversation with my sons and daughters. Penguin, Johannesburg.
Ramaphosa aus dem jetzigen Wahldebakel für die 2024 fälligen nationalen Wahlen ziehen wird. Verbreitet ist die Sorge, die mächtige innerparteiliche Opposition im ANC könnte ihn zu einem radikalen Politikwechsel zwingen. Diese Fraktion schart sich um den früheren Staatspräsidenten Zuma, eine von dessen früheren Ehefrauen, Nkosazana Dlamini-Zuma, den seit Mitte 2021 von seinem Amt als Generalsekretär suspendierten Elias („Ace“) Magashule, den Vizepräsidenten David Mabuza und andere gefolgschaftsstarke Mitglieder der früheren Befreiungsbewegung. Sie haben sich zu der Gruppe RET (Radical Economic Transformation) zusammengeschlossen und fordern die Umgestaltung Südafrikas nach dem Vorbild Simbabwes. Es geht darum, die seit Jahren in Partei und Parlament offen diskutierten Pläne, künftig die entschädigungslose Enteignung von Farmland (und anschließend anderem, in der Regel weißem privatem Eigentum) zuzulassen, umzusetzen. Diese RET-Gruppe könnte mit der noch militanteren EFF zusammenarbeiten. Ramaphosa mag sich zu einem solchen Kurswechsel entschließen, sollte er darin wie der simbabwische Diktator Robert G. Mugabe die letzte Möglichkeit sehen, den drohenden Machtverlust seiner Partei an den Wahlurnen zu vermeiden. Der Preis für diesen Politikwechsel wird allerdings höher sein als in Simbabwe, wo nur die modernen Sektoren der Volkswirtschaft zerstört wurden. Er würde in Südafrika zum Zerbrechen des Staates führen. Nicht sonderlich unwahrscheinlich ist allerdings, dass Ramaphosa einem Vorschlag von keinem Geringeren als dem Botschafter der VR China, Lin Songtian, folgen wird, sich mit dem Internationen Währungsfonds ins Benehmen zu setzen.4 Sollte das der Fall sein, so muss eine der ersten Maßnahmen sein, auf das Humankapital der nach 1994 abgehalfterten Staatsdiener zurückzugreifen. Nur so wird sich der Weg Südafrikas und der von ihm abhängigen Nachbarstaaten in den Untergang verhindern lassen.
- Winning, A. / Bavier, J. (2019): Ramaphosa is last hope for SA, says Chinese ambassador, vgl. https://www.businesslive.co.za/bd/economy/2019-07-29-ramaphosa-is-last-hope-for-sa-says-chinese-ambassador/. Vgl. auch den in Fußnote 1 genannten Aufsatz, S. 313-316.
Dr. Klaus Frhr. von der Ropp
geb. 1938, Rechtsanwalt, von 1975 bis 2000 Leiter des Bonner/Berliner Verbindungsbüros der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), freiberuflicher Konsultant zum südlichen Afrika