Südafrika in der Ära Zuma
Hoffnungszeichen am Vorabend der Fußball-WM
von Klaus Freiherr von der Ropp
Dass der internationale Fußballverband Fifa Südafrika die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 übertragen hat, geht auf die Initiative von Fifa-Präsident Joseph Blatter zurück, der sich für die Entwicklung Afrikas besonders interessiert. Seit der Entscheidung steht das Land am Kap der heute nur noch selten Guten Hoffnung ganz im Bann der größten sportlichen Herausforderung der afrikanischen Geschichte. Weniger als 20 Jahre nach dem Bruch mit einer in 350 Jahren gewachsenen rassistischen Ordnung und nach der Hinwendung zur Demokratie will Südafrika dem außerafrikanischen Ausland zeigen, zu welchen Leistungen der zunehmend verloren geglaubte Kontinent fähig ist – allen Unkenrufen zum Trotz.
Das erste Turnier dieser Art auf afrikanischem Boden soll zeigen, dass Afrika viel mehr ist als Bürgerkrieg, Hunger, gescheiterte Entwicklungsanstrengungen, Korruption, Pandemien und allgemeine Perspektivlosigkeit. Ja, das Turnier ist weit mehr als ein bloßes Sportereignis. Es ist das vielleicht verzweifelte Bemühen, den Respekt der Außenwelt zu gewinnen und die eigene Würde wiederzufinden. Pretoria ist bereit, dafür eine für afrikanische Verhältnisse riesige Summe Geld zu investieren. So wird der Bau von sechs neuen und vier runderneuerten Stadien mindestens 30 Milliarden Rand (2,7 Milliarden Euro) verschlingen. Hinzu kommen die Kosten für ungezählte Infrastrukturprojekte, darunter die neue Zugverbindung „Gautrain“ in der Provinz Gauteng, Flughäfen, Straßen und vor allem für den Aufbau des bislang völlig daniederliegenden öffentlichen Verkehrsnetzes. Auch private Investoren geben riesige Summen aus, etwa für den Bau von Hotels.
Bauliche Mängel sowie fremdenfeindliche Unruhen ließen vor gut einem Jahr selbst Joseph Blatter öffentlich spekulieren, dass die Fifa sich möglicherweise gezwungen sehen könne, Südafrika das Turnier wieder zu entziehen. Der Redakteur der Süddeutschen Zeitung Thomas Kistner übertrieb nicht, als er im vergangenen Juli angesichts der horrenden Kriminalität riet, „Großstadttouristen mit lebensrettenden Hinweisen zum Straßenalltag“ zu versorgen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Südafrika ist im Jahr 2009 mit einer Fülle von Problemen konfrontiert, die zu lösen auch stärkere Staaten überfordern würde. Seit dem Amtsantritt des wegen seines Lebenswandels und wegen des Verdachts der Korruption sehr umstrittenen Präsidenten Jacob Zuma im Mai 2009 gibt es jedoch erstmals die Hoffnung, eine gewisse Abhilfe zu schaffen. Denn Zuma, von einer auch in Deutschland nicht selten rassistischen Presse als Barbar vorgestellt, sieht anders als seine Vorgänger die Gefahr einer Implosion seines Landes. Viele der existierenden Probleme sind Erbe des Ancien régime, nicht wenige sind neu: massive, oft strukturelle Arbeitslosigkeit, bittere Armut, die HIV/Aids-Pandemie, eine ebenso blutrünstige wie oft sinnlose Gewaltkriminalität, das Fehlen jeder rechtsstaatlichen und demokratischen Kultur, ein massiver Ausbildungsnotstand sowie – sicher die folgenschwerste Hinterlassenschaft – eine durch die rassistische Vergangenheit verursachte Zerstörung von Hunderttausenden von Familien.
Keine Regierung der Welt hätte diese Aufgaben in kaum anderthalb Jahrzehnten auch nur ansatzweise in den Griff bekommen. Aber es war vermeidbar, dass sie unter den Präsidenten Nelson Mandela (1994-1999) und Thabo Mbeki (1999-2008) so massiv ausuferten. Das Grundübel besteht darin, dass die Regierung die öffentliche Verwaltung des Landes zerstörte. Bis 1994 wurden alle Verwaltungsbereiche vornehmlich von Afrikaanern („Buren“) getragen. Dann wurden die gut ausgebildeten und berufserfahrenen Staatsdiener außer in der Finanzverwaltung und in der Zentralbank mehrheitlich entlassen. An ihre Stelle traten Beamte, die der Allianz aus dem African National Congress (ANC), der South African Communist Party (SACP) sowie dem Gewerkschafts-Dachverband Cosatu verbunden waren. Ihnen fehlen in der Regel sowohl die entsprechende Ausbildung als auch Erfahrung. Es sind eben nur political appointees.
Katastrophale Folgen hat das etwa auf dem Gebiet der Polizeiarbeit, der Strafjustiz und der Strafvollstreckung: In Südafrika gibt es 18.500 Morde jährlich, also mehr als 50 pro Tag; hinzu kommen unzählige versuchte Tötungsdelikte, Vergewaltigungen, Raubüberfälle, Entführungen von Fahrzeugen (hijacking), Hauseinbrüche und so weiter. Als Folge von Unfähigkeit und Korruption bleibt die Masse der Straftaten polizeilich unbearbeitet. Aus denselben Gründen sind die Gerichtsverfahren sehr häufig mangelhaft.
Und wird ein Delinquent tatsächlich verurteilt, kann er sich nicht selten der Strafe entziehen, indem er die Vollzugsbeamten besticht.
Ferner haben es Ineffizienz und Korruption an den Außengrenzen möglich gemacht, dass mittlerweile mehr als fünf Millionen Ausländer (vorwiegend aus anderen afrikanischen Ländern) illegal nach Südafrika eingereist sind. Die Folgen waren noch mehr Arbeitslose, ein Anstieg der Kriminalität sowie die weitere Ausbreitung der HIV/Aids-Pandemie. Aus alldem resultierten die fremdenfeindlichen Unruhen, an denen nur überraschte, dass sie nicht viel früher ausbrachen und weit mehr Opfer forderten. Überdies wurde die Zollverwaltung entscheidend geschwächt, was zum massenhaften illegalen Zustrom von Gütern aller Art geführt hat, etwa aus China und der Türkei, mit äußerst negativen Folgen für die lokale Produktion. Das Resultat kann nur weitere Arbeitslosigkeit sein. Schließlich sind diese und andere Schwächen der öffentlichen Verwaltung die Hauptursache für die massenweise Auswanderung von (keineswegs nur weißen!) Fachleuten aller Art nach Neuseeland, Australien, Nordamerika und Westeuropa. Südafrika droht auszubluten.
Zuma spricht die Probleme offen an
Vor allem auch im ländlichen Raum hat der weitgehende Zusammenbruch der Lokal- und Regionalverwaltung schlimme Folgen für den Alltag. Man beachte nur den Zustand der Nebenstraßen! Doch eine an Südafrika desinteressierte deutsche Politik übersieht das alles. Nicht übersehen konnte sie hingegen drei andere Entwicklungen: Erstens führen Engpässe bei der staatlichen Energieversorgung (Escom) dazu, dass bis 2013 schätzungsweise 10 Prozent weniger Strom zur Verfügung steht als heute. Und das in einem Land der Bergwerke. Zweitens werden Trink- und Abwassersysteme heute mangels sachkundiger Staatsdiener häufig nicht mehr ordnungsgemäß gewartet, geschweige denn repariert. Und drittens wurde der nationalen Fluglinie Suid-Afrikaanse Lugdiens kürzlich von der amerikanischen Federal Aviation Authorithy mit dem Entzug der Landerechte gedroht, falls sie ihre Sicherheitsstandards nicht erhöht. Diese waren gesunken, weil qualifiziertes Personal abgewandert war. Geraldine Fraser-Moleketi, Ministerin für den öffentlichen Dienst, schätzte Anfang 2008, allein auf nationaler Ebene fehle es an mehr als 42.000 qualifizierten und hochqualifizierten Staatsdienern.
Jacob Zuma ist der erste der bislang vier demokratisch gewählten Staatspräsidenten, der all diese Missstände offen anspricht und anpacken will. Wahrscheinlich war ihm immer klar, dass im Ausland lange Jahre politisch korrekter, nicht selten naiver Unfug über das angeblich im Jahr 1994 eingetretene „Wunder“ in Südafrika verbreitet wurde.
Vor kaum eineinhalb Jahrzehnten – so die fast einmütige Einschätzung der Außenwelt – sei im äußersten Süden Afrikas Unfassbares geschehen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hätten die weißen Südafrikaner das Unrecht des Ancien régime eingesehen. Aus freien Stücken hätten sie das Jahrzehnte alte Verbot der Befreiungsbewegungen wie ANC und SACP aufgehoben, mit diesen Organisationen von Ende 1991 bis Ende 1993 über ihre politische Kapitulation verhandelt – und schließlich dem schwarzen Südafrika am 10. Mai 1994 endgültig die politische Macht übertragen. Mit Nelson Mandela habe eine Lichtgestalt den reaktionären Schwächling F.W. de Klerk als Staatspräsident abgelöst. Von da an habe eine Entwicklung hin zu politischem Pluralismus, zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft eingesetzt, und zwar in Südafrika ebenso wie in weiteren Staaten nicht nur im Süden des Kontinents. Im Süden Afrikas
würden gar „afrikanische Löwen“ heranwachsen, vergleichbar mit den „Tigerstaaten“ im südöstlichen Asien.
Heute kommen aus Südafrika wie beschrieben ganz andere Nachrichten. „Wunderland ist abgebrannt“, lautete die unsinnige Schlagzeile in einer Berliner Tageszeitung während der ausländerfeindlichen Unruhen in den Räumen Johannesburg, Pretoria, Kapstadt und Durban im Mai 2008. Südafrika war nie ein Wunderland, und es ist nicht abgebrannt! Es bedarf allerdings sehr starker Führungspersönlichkeiten, um seine Implosion abzuwenden. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Staatspräsident Jacob Zuma (ANC) und seine Vertrauensleute dies erkannt haben. Zuma hofft, das Chaos in Zusammenarbeit mit den früheren Machthabern, den Afrikaanern verhindern zu können. So überschrieb selbst die liberale südafrikanische Tageszeitung Mail & Guardian einen Artikel mit der Frage „Generaal Jacobus Zuma?“, den afrikaansen Terminus „Generaal“ sehr bewusst verwendend. Im Ausland, nicht zuletzt in Deutschland fehlt allerdings der Mut, nach einer neuen Strategie zur Stabilisierung des fragilen Südafrika zu suchen. Damit steht die derzeitige Südafrika-Politik der Bundesrepublik in einer langen Tradition falscher Einschätzungen und Entscheidungen.
Die Weltwirtschaftskrise sollte für Deutschland und die übrige westliche Welt ein zusätzlicher Anlass sein, die Entwicklungen in Südafrika auf das Sorgfältigste zu beobach-
ten. Denn sie hat die Kap-Republik ganz besonders getroffen. Allerdings nicht wie in der westlichen Welt den Bankensektor, obwohl der südafrikanische Finanzsektor für afrikanische Verhältnisse international ausgerichtet ist. Reste von Kapitalverkehrskontrollen aus der Zeit des Apartheidregimes haben die Banken daran gehindert, toxische Wertpapiere zu kaufen. Anders die Realwirtschaft: Südafrika ist dringend auf ausländische Kapitalzuflüsse und Exporte angewiesen. Angesichts eines monatlichen Durchschnitteinkommens mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Höhe von unter 260 Euro, einer privaten Überschuldung der verfügbaren Einkommen in Höhe von 76 Prozent, eines deutlichen Anstiegs der ohnehin horrenden Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt der durch den faktischen Wegfall der Grenzkontrollen ständig steigenden illegalen Zuwanderung aus anderen afrikanischen Ländern und Pakistan ist eine autarke Entwicklung ausgeschlossen. Binnennachfrage und Binnenkapitalbildung sind keine Option. Umso härter treffen jetzt das Ausbleiben beziehungsweise der verbreitete Abzug ausländischen Kapitals das Land. Verheerend sind auch die Einbrüche beim Export, nachdem die internationale Nachfrage nach den traditionellen Exportgütern teilweise drastisch gesunken ist. So leidet die Ausfuhr von Kraftfahrzeugen und von Eisen- und Stahlwaren unter der globalen Überproduktion. Dies führte mit der verminderten Nachfrage vor allem Chinas und Indiens nach Bergbauprodukten Schätzungen zufolge zum Verlust von bis zu 300.000 Arbeitsplätzen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis das demokratische Südafrika von politischen Streiks und anderen sozialen Unruhen erschüttert wird.
Als Südafrikas Außenminister Hans-Dietrich Genscher auslachte
Es ist hinlänglich bekannt, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt die westdeutsche Außen- und Sicherheitspolitik lange Jahre selbst gestaltete. Aus diesem Grund blieben für Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zunächst nur Politikfelder übrig, die Schmidt langweilten. Daher konzentrierte sich Genscher auf die Vorbereitung des politischen Umbruchs in Namibia und Südafrika – als außen- und sicherheitspolitischer Neuling musste er sich mit einer „ABM“ begnügen. Doch die Briten und Amerikaner, die sich ebenfalls stark engagierten, taten seine intensive Diplomatie als opportunistisch und unprofessionell ab. Zu Recht! So schlossen sie die Bundesregierung Mitte Oktober 1978 aus den Verhandlungen über die Zukunft des südlichen Afrika aus. Zuvor hatte der südafrikanische Außenminister Roelof Botha seinen bundesdeutschen Kollegen ausgelacht, nachdem dieser Südafrika für den Fall fortwährender Unbotmäßigkeit mit weiteren Wirtschaftssanktionen gedroht hatte. Die Vereinigten Staaten haben eben immer anerkannt, dass Großbritannien in Südafrika besondere Interessen hatte und hat, nicht zuletzt aufgrund millardenschwerer Investitionen. Ferner lebten (und leben) dort zwischen einer dreiviertel und einer Million britische Staatsangehörige. Und schließlich verfügte die südafrikanische Regierung damals über sechs fertiggestellte und eine siebte sich im Bau befindliche Bombe vom Typ Hiroshima.
Als sich die Machtumkehr abzeichnete, engagierte sich das wiedervereinte Deutschland umso intensiver beim Aufbau des demokratischen Südafrikas: Nahezu die gesamte Elite der deutschen Staatsrechtslehrer zog es an das Kap der Guten Hoffnung. Sie rieten dem neuen Südafrika zur Übernahme des deutschen Grundgesetzes, das sich schließlich in der alten Bundesrepublik 40 Jahre lang hervorragend bewährt hatte. Allem Anschein nach stellte jedoch niemand die Frage, ob sich diese Verfassung auf einen Staat in einem
völlig anderen Kulturraum übertragen lässt, zumal dieser über keinerlei rechtsstaatliche und demokratische Tradition verfügt. Allen Ernstes wurde der törichte Satz ausgesprochen: „You can legislate democracy into existence.“ Ein Vorbote der desaströsen amerikanischen Politik Jahre später im Irak. Im Mai 1977 hatte der amerikanische Vizepräsident Walter Mondale zu Bundeskanzler Helmut Schmidt gesagt, der Westen müsse Pretoria zur Aufgabe der Apartheid zwingen. Schmidt antwortete: „And replace it with what?“ Diese Frage stellte in den neunziger Jahren niemand mehr.
Wer angesichts der unvorstellbar tiefen Zerrissenheit Südafrikas einer Lösung sui generis das Wort redete wie Egon Bahr in den siebziger Jahren oder später Otto Graf Lambsdorff, geriet in schweres Fahrwasser. Der große außenpolitische Denker Bahr hatte bereits damals gefordert, für Südafrika „ein bislang unbekanntes Modell gleichberechtigten Zusammenlebens mit besonderem Schutz für Minderheiten“ zu suchen.
Ein Bündnis zwischen Afrikanern und Afrikaanern
Die Kritik an solchen Positionen steigerte sich zur Hysterie, als ich 1999 in einem Leserbrief in der FAZ vor der Gefahr warnte, dass bald 1,5 Millionen EU-Bürger aus einem zusammengebrochenen Südafrika evakuiert werden müssten. Meine Empfehlung, im Interesse der Stabilität führende Afrikaaner um den zwar konservativen, aber nicht reaktionären Generaal Constand Viljoen in die südafrikanische Regierung aufzunehmen, teilte niemand. Je härter Wirtschaft und Politik den ANC zuvor verteufelt hatten, desto tiefer waren jetzt die Bücklinge.
Auch die erstklassige amerikanische Journalistin Patti Waldmeir mahnte 1993 in der Financial Times: „Democratic niceties will have to be sacrificed to the overwhelming need to restore stability.“ Aber diese Position entsprach eben nicht politisch korrektem Verhalten. So zog weiter ein wahrer Strom vor allem deutscher Experten nach Süden, entsandt von verschiedenen Bundesministerien, nicht wenigen Landesministerien, allen politischen Stiftungen, dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundesrat, dem Bundesrechnungshof, der Bundeswehr und vieler anderer Institutionen.
Niemand warf die Frage auf, ob die erfolgreiche Transformation Südafrikas nicht ein Bündnis zwischen Afrikanern und Afrikaanern voraussetze, eine Allianz zwischen Generaal Jacobus Zuma und Generaal Constand Viljoen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1994 spielte Zuma eine ausgeprägt konstruktive Rolle bei dem Versuch, den „Accord on Afrikaner Self-Determination“ in die Tat umzusetzen, der das Existenzrecht der Afrikaaner machtpolitisch absichern sollte. Der „Accord“ war am 23. April 1994 von Thabo Mbeki und Constand Viljoen unterzeichnet worden – dank der vermittelnden Diplomatie des amerikanischen Botschafters Princeton Nathan Lyman und dessen britischen Kollegen Sir Anthony Reeve. Es fügte sich gut in die Südafrikapolitik Deutschlands ein, dass die deutsche Regierung die dazugehörige Zeremonie boykottierte, obwohl sie eingeladen war.
In Bonn begriff wohl niemand, weshalb der tief in seiner zulusprachigen Kultur verwurzelte Jacob Zuma auf die ebenso traditionalistischen Afrikaaner zuging. Die Verhandlungen über die Implementierung des „Accord“ scheiterten Mitte der neunziger Jahre nicht an Zuma und dem übrigen ANC, sondern an der Zerstrittenheit der Afrikaaner untereinander. Von da an lief das demokratische Südafrika Gefahr, längerfristig in kongolesische, sudanesische oder zumindest nigerianische Zustände abzustürzen.
Der ANC gewann die Parlamentswahlen Ende April 2009 mit stolzen 65,9 Prozent der Stimmen, das sind 264 von 400 Parlamentssitzen. Die Oppositionsparteien werden in den kommenden Jahren kaum eine Rolle spielen. Die Democratic Alliance (die Partei der „Coloureds“, der „Inder“ und der englischsprachigen Weißen) erhielt 16,6 Prozent der Stimmen, der Congress of the People (eine Abspaltung vom ANC) bekam 7,4 Prozent der Stimmen und die Inkatha Freedom Party (eine Partei konservativer Zulus) erhielt 4,6 Prozent. Das gilt erst recht für die vielen Kleinstparteien, mit Ausnahme der Vryheidsfront (VF Plus). Sie erreichte zwar nur 0,83 Prozent der Stimmen und entsendet lediglich 4 Parlamentarier nach Kapstadt. Doch in ihr sind die Afrikaaner organisiert, die Mitte der neunziger Jahre mit Zuma über die Implementierung des erwähnten „Accord“ verhandelten. Ihr Wahlergebnis fällt deshalb schwach aus, weil sich eine starke Minderheit der Afrikaaner, in der Regel die ab Mitte 1994 abgehalfterten Staatsdiener, aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat und sich nicht an Wahlen beteiligt. Zuma ist sichtlich bemüht, sie für die Restabilisierung Südafrikas zu gewinnen, indem er viele von ihnen wieder in ihre alten Funktionen einstellt. Es gibt wohl immer noch die Chance, damit die Implosion des Landes zu verhindern. Genau deshalb hat er, trotz der Zweidrittel-Mehrheit des ANC, Pieter Mulder, den Vorsitzenden der VF Plus und politischen Erben Constand Viljoens, in sein Kabinett berufen und zum stellvertretenden Landwirtschaftsminister ernannt.
Wertschätzung und Vertrauensbildung
Dem waren eine ganze Reihe vertrauensbildender Maßnahmen vorausgegangen: Zuma besuchte eine Siedlung armer Afrikaaner sowie die Farm eines der vielen ermordeten afrikaansen Farmer; er machte verschiedene Gesten der Wertschätzung gegenüber dem damals noch oppositionellen Abgeordneten Pieter Mulder; und der Schatzmeister des ANC, Mathews Phosa hielt in Zumas Namen Ende August 2008 eine Rede in Afrikaans (!) vor Anhängern Mulders. Auch er bekundete Wertschätzung und hob die überragende Bedeutung der Afrikaaner für die Stabilität und die Entwicklung Südafrikas hervor.
Anders als den vielen politisch korrekten ausländischen Beobachtern ist der heutigen südafrikanischen Regierungsspitze klar, dass sie die abgehalfterten Afrikaaner braucht. Diese müssen von dem Gefühl befreit werden, Fremde im eigenen Land zu sein. Ohne einen massiven Minderheitenschutz („copper-bottomed guarantees of existence“) werden die Afrikaaner in ihrer äußeren und, viel häufiger, inneren Emigration verharren. So würde Südafrika verkommen, ob nun mit oder ohne Fußball-WM.
Wer afrikaanssprachige Medien liest, der merkt, dass die Verzweiflung der Afrikaaner zunimmt. Die Bürgerinitiative der Gewerkschaft Solidariteit „AfriForum“ organisiert Protestmärsche, deren Teilnehmer nicht nur aus dem reaktionären, sondern auch aus dem konservativen und dem liberalen Lager kommen. Auch in Südafrika kann Verzweiflung über die Unerträglichkeit des Alltags, ja schon über den Verlust der Sprache (Afrikaans kann sich unter den gegebenen Umständen neben der Weltsprache Englisch nicht behaupten) zu Terror führen. Es wäre ein Wunder, wenn es hier keine illegalen Waffenlager und potenzielle Terroristen mehr gäbe! Bei den dilettantischen Anschlägen der so genannten „Boeremag“ von 2002 muss es nicht bleiben.
Als Anknüpfungspunkt kommt nur der bereits erwähnte, von Washington mit Unterstützung Londons zustande gebrachte „Accord on Afrikaner Self-Determination“
in Betracht. Seine Kernpunkte wurden später in Artikel 235 der geltenden südafrikanischen Verfassung aufgenommen, aber eben nie verwirklicht. Wie kann der „Accord“ heute ausgelegt werden? Am ehesten wohl im Sinne der Vorschläge, die der spätere Friedens-Nobelpreisträger Marti Ahtisaari im Auftrag des UN-Sicherheitsrates für das Kosovo erarbeitete und Anfang 2007 vorlegte. Denn darin spielen Fragen des Minderheitenschutzes die ganz entscheidende Rolle.
Im Anhang II zu den „Allgemeinen Prinzipien“ des Entwurfs einer Verfassung für das Kosovo wird bestimmt, dass die Angehörigen ethnischer, linguistischer und religiöser Minderheiten zusätzlich zu den allgemeinen Menschenrechten und Grundfreiheiten Gruppenrechte haben. Die Gruppenrechte sollen bewirken, dass Minderheiten in multi-ethnischen Staaten ihre „kulturelle Identität“ bewahren, beschützen und entwickeln können, unter anderem mittels Schulunterricht in ihren Muttersprachen oder einen Anspruch auf eigene Medien.
Von großer Bedeutung sind die von Ahtisaari vorgeschlagenen neu zu ziehenden Gemeindegrenzen, um sprachlich möglichst einheitliche Gebietskörperschaften zu schaffen (Anhang III). Darüber hinaus ist eine Überrepräsentation der ethnischen Minderheiten in den Exekutiv- und Legislativorganen vorgesehen. Zudem hätten die Minderheiten im zentralen Parlament von Pristina ein Veto bei Gesetzesvorhaben, die Sprach- und Erziehungsfragen oder die Änderung von Gemeindegrenzen betreffen. Erwähnt sei noch, dass sich die im Parlament von Skopje vertretenen Parteien schon im Interesse der Stabilität Mazedoniens auf eine analoge Regelung einigten, den Vertrag von Ohrid.
Die vom ANC geführte südafrikanische Regierung hat seit 1994 gegenüber den Afrikaanern die exakt gegenteilige Politik verfolgt und die Existenz einer Regenbogennation beschworen, die es schlicht nicht gibt. Besonders spürbar war das Zurückdrängen des Afrikaansen im Schulwesen: Wird ein anderssprachiges Kind – worauf es einen Anspruch hat – von einer afrikaanssprachigen Schule aufgenommen, so wird diese automatisch zur Parallel- oder Dual Medium School; längerfristig sind damit die Tage von Afrikaans an dieser Schule gezählt. In den neuen Schulbüchern taucht die Geschichte der Afrikaaner nur noch in Fußnoten auf. Schließlich hat die Regierung erzwungen, dass alle fünf ehemals afrikaanssprachigen Universitäten heute bilingual sind. Auch hier wird das Englische auf die Dauer das Afrikaanse verdrängen. Wie in Mazedonien bereits geschehen und für das Kosovo vorgesehen sind nach dem Mai 1994 die Gemeindegrenzen auch in Südafrika neu gezogen worden, allerdings mit dem gegenteiligen Ergebnis: Bewusst wurden die Grenzen so gezogen, dass die Gemeinden heute mehrsprachig sind.
Es bleibt zu hoffen, dass General Zuma von dieser Politik der Zurückdrängung tatsächlich ablässt. Andernfalls wird die Furcht Realität, die der Schriftsteller, Freiheitskämpfer und langjährige politische Häftling Breyten Breytenbach erstmals 1991 äußerte: „L´Afrique du Sud va bientôt traverser les variantes infinies de la barbarie.“
Sollte seine Prognose zutreffen, wird Südafrika anders als Simbabwe, das im Jahr 2000 binnen weniger Monate zusammenbrach, wohl eher längerfristig implodieren. Denn London und Washington werden wie vor knapp 20 Jahren versuchen, den Zusammenbruch zu verhindern. Das Fußballturnier wird trotz der Gefahren für die erwarteten 450.000 ausländischen Zuschauer mit großer Wahrscheinlichkeit stattfinden. Ob es darüber hinaus für das Gastland und sein regionales Umfeld weit über 2010 hinaus die beabsichtigte Werbeveranstaltung wird, die die dringlich benötigten großen Investitionen anzieht? Erst seit der Wahl von Generaal Jacobus Zuma in das Amt des Staatspräsidenten im Frühjahr 2009 erscheint das denkbar.