Die Südafrikapolitik der Bundesrepublik Deutschland
Klaus von der Ropp
Klaus Freiherr von der Ropp: Im Mai 1977 empfing Bundeskanzler Helmut Schmidt im Bonner Bundeskanzleramt US-Vizepräsident Walter Mondale. Letzterer hatte sich am Tag zuvor in Wien in aller Öffentlichkeit mit dem südafrikanischen Ministerpräsidenten Johannes Balthazar Vorster über die Politik der Apartheid in dessen Land gestritten und, wie in der westlichen Welt damals bereits üblich, Pretoria aufgefordert, ein System der „one man one vote (Mondale: the American model)" einzuführen. Vorster hatte sich die Einmischung in die internen Angelegenheiten seines Landes naturgemäß verbeten. Im Gespräch mit Schmidt äußerte Mondale, die westliche Welt müsse alles in ihrer Macht Stehende tun, Südafrika zu zwingen, die Apartheid aufzugeben. Schmidts lakonische Antwort bestand in der Frage: „And replace it with hat?" Kaum jemand im geteilten Deutschland - und nicht nur dort! - stellte diese Frage. In der hohen Zeit des Kalten Krieges gingen offenbar beide Staaten in Deutschland davon aus, das eigene Modell wirtschaftlicher und politischer Ordnung in den äußersten Süden Afrikas exportieren zu können. Von Schmidt, vielleicht dem bedeutendsten Außen- und Sicherheitspolitiker im Nachkriegs-Deutschland, war bekannt, dass ihn Sub-sahara-Afrika langweilte. Ihm war jedoch noch in Erinnerung, was US-Außenminister Henry Kissinger ihm nach einem Treffen mit Vorster etwa ein Jahr zuvor im süddeutschen Raum berichtet hatte. Kissinger meinte damals im Bundeskanzleramt, mit dem Südafrikaner sei ihm eine Gestalt aus dem Alten Testament begegnet.
Anders als möglicherweise alle anderen Südafrika-Äußerungen in Deutschland war (und ist unter sehr anderen Umständenl) die Frage Schmidts die Frage schlechthin, um die Probleme Südafrikas in den Griff zu bekommen. 1977 ging es darum, ein rassistisches System zu überwinden. 2008 geht es darum zu verhindern, dass das seit dem Umbruch vom Mai 1994, d. h. die Übergabe des Staffelstabes von dem im Grunde reaktionären Schwächling F. W. de Klerk an die Lichtgestalt Nelson R. Mandela, immer tiefer in Anarchie versinkende demokratische Südafrika vollends kollabiert. Eine skurrile Allianz aktiver und ehemaliger Diplomaten, eher konservativer Politiker, von Geschäftsleuten und nicht zuletzt der einst im politischen Kampf gegen Apartheid sehr engagierten EKD sieht die heutige Gefahr nicht, weil sie sie nicht sehen will. Vielleicht werden diese Nichtakteure schon im Zusammenhang mit der nach wie vor für Mitte 2010 vorgesehenen Fußballweltmeisterschaft das Unverantwortliche ihrer Haltung erkennen.
Klarer als jeder andere Politiker in Deutschland/West sprach Egon Bahr Mitte 1977 in einem Interview mit dem „Allgemeinen Deutschen Sonntagsblatt" (Hamburg) von der Gefahr eines Dritten Weltkrieges, falls es nicht gelinge, den Südafrika-Konflikt durch Verhandlungen zu lösen. In Bonn war etwa in Debatten im Deutschen Bundestag immer wieder die These zu hören, dass die Staaten des Warschauer Vertrages keinesfalls die Kontrolle über die (damals) hervorragend ausgebauten See- und Flughäfen der Kap-Republik gewinnen dürften. Eine andere Besorgnis war (noch) viel ernster: zusammen mit der UdSSR und Simbabwe würde das neue Südafrika wahrscheinlich u. a. bei den Stahlveredlern Chrom, Mangan und Vanadium Kartelle nach dem Vorbild der OPEC bilden. Und das vor allem zu Lasten der westlichen Rüstungsindustrie!
Im Folgenden möchte ich die Positionen von CDU, CSU, SPD und FDP - die Grünen spielten damals auch in Deutschland/West noch keine Rolle - zum Südafrika-Konflkt ausleuchten. Dabei kann ich mich kurz fassen. Denn die westdeutsche Namibia- und Südafrika-Politik wurde bis ins Detail hinein, wie gestern in dem Vortrag von Hans-Joachim Vergau bereits gut herausgearbeitet, von Hans-Dietrich Genscher und, von Vergau übersehen, von dessen damals engstem Mitarbeiter im Bonner Auswärtigen Amt, GüntherVerheugen, persönlich gestaltet.
Keine politische Partei wagte es, Apartheid in Namibia und Südafrika zu verteidigen. Die Einstellung zur Apartheid war in Deutschland/West nicht minder scharf kritisch als in Deutschland/Ost. Dazu trug die breite Südafrika-Berichterstattung in allen Medien entscheidend bei. Unbekannt war allerdings die Komplexität der Probleme Südafrikas. Stimmen wie die des gestern von Hans-Joachim Vergau zurecht als herausragend bezeichneten katholischen Erzbischofs von Durban, Denis Hurley, der die in der Außenwelt kaum bekannte unvorstellbar tiefe Kluft in der Bevölkerung Südafrikas immer wieder ansprach, erreichten noch nicht einmal die Politiker. In Bonn war eigentlich jedermann Südafrika-Experte! Umso bemerkenswerter die warnende Stimme Egon Bahrs in dem oben bereits erwähnten Interview. Seine These war, bloße Machtumkehr gemäß dem Prinzip „one man one vote" sei nicht die adäquate Antwort auf die südafrikanische Herausforderung; es gelte vielmehr „ein bisher unbekanntes Modell des gleichberechtigten Zusammenlebens mit besonderem Schutz für Minderheiten" zu entwickeln. In Bonn begriff das außer einer Handvoll von Sozialdemokraten wohl nur der von Genscher als Rivale immer gefürchtete Otto GrafLambsdorff.
Klarer als andere Parteien sprachen CDU und CSU die Gefahr an, dass ein vom ANC und der ihm aufs Engste verbündeten SACP regiertes Südafrika aus der Kaprepublik einen Staat östlich-sozialistischer Orientierung machen würde.
Die politische Linke spielte diese Gefahr mit nicht überzeugenden Argumenten herunter. Wer gestern die detaillierten Ausführungen von Hans-Georg Schleicher gehört hat, kann keinen Zweifel über die Ziele der Südafrika-Politik der DDR, Kubas und der ihnen verbündeten anderen sozialistischen Staaten mehr haben. Die CDU - nicht die CSU - hoffte, die Apartheid an ANC, SACP und der sozialistischen Welt vorbei dadurch überwinden zu können, dass sie die Inkatha-Partei der zulusprachigen Traditionalisten um Mangosuthu Buthelezi zu einer Alternative zu ANC/SACP aufbaute. Sie sollte, so etwa die Vorstellung des einflussreichen Heiner Geißler, nach Abschaffung von Apartheid in Pretoria die Regierungsverantwortung übernehmen. Buthelezi und seine in- und ausländischen Mitstreiter wollten Südafrika zu Recht nicht als westlich-liberaldemokratischen Staat, sondern mit einer sogenannten konkordanzdemokratischen Verfassung (d. i. ein System einer ständigen Großen Koalition) regieren. So hoffte man, Südafrika trotz seiner bereits angesprochenen kulturellen Zerrissenheit als einen Staat zusammenhalten zu können. Wichtigen Rückhalt erhielt diese Position, als eine weltweit stark beachtete Studie7 des Arnold-Bergstraesser-Instituts in Freiburg i. Br. aufgrund von Meinungsfragen in den späteren 70er Jahren zu dem Ergebnis kam, dass Inkatha unter den schwarzen Südafrikanern über eine deutlich größere Gefolgschaft verfüge als der ANC. Nicht nur aus heutiger Sicht waren die Ergebnisse dieser Studie schlicht falsch. Partei und Bundestagsfraktion der CDU waren jedoch auch auf Basis dieser Studie auf das Intensivste um einen Dialog mit der Regierung der weißen Afrikaner über die Abschaffung von Apartheid bemüht. Dies ohne jeden Erfolg! In Pretoria war man Gefangener der eigenen Ideologie! Auch Buthelezi, das sei nur am Rand vermerkt, verweigerte man Verhandlungen. So musste er, wie geschehen, scheitern. Hier mag auch die Ursache dafür liegen, dass eine Mitte der 80er im Bonner Bundeskanzleramt geplante Südafrika-Initiative totgeboren war. Über sie ist, außer dass sie höchstwahrscheinlich am Auswärtigen Amt vorbei unternommen werden sollte, in der Öffentlichkeit nie etwas bekannt geworden. Nicht nur aus heutiger Sicht war die Analyse der CDU schlicht falsch. Falsch ist aber auch, in Buthelezi eine Marionette Pretorias zu sehen. Nicht anders als der ANC wollte er Apartheid überwinden. So weigerte er sich mit großer Standhaftigkeit, entsprechend den Wünschen des weißen Minderheits-
- Theodor Hanf, Heribert Weiland, Gerda Vierdag unter Mitarbeit von Lawrence Schlemmer, Rainer Hampel und Burkhard Krupp: Südafrika: Friedlicher Wandel? Möglichkeiten demokratischer Konfliktregelung - Eine empirische Untersuchung, München und Mainz, 1978.
regimes, das von ihm regierte Bantustan KwaZulu in die Unabhängigkeit von Pretorias Gnaden zu führen.
In den 70er Jahren genoss er mit seinem Bemühen, das Apartheidsystem von innen her zu zerstören, durchaus das Wohlwollen des ANC, wohl nicht das der SACP. Heute ist längst in Vergessenheit geraten, dass das in der DDR gedruckte offizielle Organ des ANC, „Sechaba" (Februar 1971, S. 10), ihn in den 70er Jahren „an African patriot, a man of the people" genannt hatte. Auch von daher genoss er das Vertrauen und die Unterstützung eines Denis Hurley, eines Alan Paton und anderer Feinde des Ancien Regime. Künftige Historiker werden ihn als eine tragische Gestalt sehen.
Abschließend sei noch erwähnt, dass die den Unionsparteien nahestehenden Deutsch-Südafrikanische-Gesellschaft und die Deutsche Afrikastiftung, eine Neugründung der späteren 70er Jahre, im politischen Bonn nie eine nennenswerte Rolle gespielt haben. Denn beider Beziehungen zu der Regierung in Pretoria waren zu eng, als dass dies hätte anders sein können. Auch sie gefielen sich wie beide Unionsparteien darin, ANC, SWAPO und andere Befreiungsbewegungen zu verteufeln.
Der CSU gingen die Vorstellungen der CDU zu weit. Immerhin scheiterte daran die Verabschiedung der sonst üblichen gemeinsamen Wahlplattform der Unionsparteien vor der Bundestagswahl 1987. Unter Führung des hier außerordentlich engagierten Franz-IosefStrauß redete die CSU nicht der Abschaffung, sondern der grundlegende Modifizierung der Apartheid das Wort. Grundlage der Vorstellungen der CSU war vielleicht der sogenannte Tomlinson-Report, der noch in der Ära von Ministerpräsident Hendrik Verwoerd erstellt, jedoch sofort verworfen worden war. Verwoerd und seine Mitstreiter fürchteten zu Recht, dass ihre (weiße) Wählerschaft niemals bereit sein würde, die in diesem Bericht geforderten Zugeständnisse, beispielweise eine Landreform betreffend, zu machen. Ohne Zweifel erfreute sich Strauß bei den afrikaanssprachigen Weißen größtmöglicher Wertschätzung, bei den englischsprachigen Weißen wird die Anerkennung für ihn geringer gewesen sein.
Im Nebel blieb eine Südafrika-Initiative, die Strauß Ende 1987 nach Moskau und Anfang 1988 nach Pretoria führte. Gerüchteweise verlautete, die sowjetische Regierung habe ihn, auf Bitten von Premierministerin Margaret Thatcher, eingeladen und ihn gebeten, den Machthabern in Pretoria zu übermitteln, dass sie nicht länger an einer Revolution interessiert sei und auf eine Verhandlungslösung in Südafrika setzte. Nicht unwichtig war, dass Strauß die Reise nach Südafrika und Anrainer unter Umgehung des von dem ihm verhassten Genscher geführten
Auswärtigen Amts und der westdeutschen Botschaften unternahm. Neu war, dass er jetzt in Buthelezi eine Schlüsselfigur sah. Selbst den weißen Afrikanern, war, anders als Strauß, zu dieser Zeit aber wohl klar, dass der ANC, sollte eine dauerhafte Lösung erreicht werden, daran in prominenter Position zu beteiligen sei.
Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung in Bonn gaben mit dem 1. Oktober 1982 CDU und, zähneknirschend, auch die CSU ihre Haltung zu Südafrika (und Namibia) auf. Neben der Aufgabe aller anderen ihrer bisherigen außen- und sicherheitspolitischen Positionen war das der von der Union an ihren Koalitionspartner FDP und den hier dominierenden Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zu zahlende Preis. Letzterer hatte sich ohne jede Kenntnis Südafrikas (und Namibias) bei Übernahme des Auswärtigen Amtes (1974) dazu die Positionen des südafrikanischen ANC und der namibischen SWAPO zu eigen gemacht. Dazu hatte ihm sein engster Mitarbeiter, Günther Verheugen, geraten. Auch er verfügte nicht über vor Ort erworbene Kenntnisse, hatte jedoch als Student gegen Apartheid demonstriert. Nach Abbruch seines Studiums war Verheugen Mitarbeiter Genschers im Bundesinnenministerium und wechselte mit diesem 1974 in das Bonner Auswärtige Amt. Dort ernannte er sich als Leiter des eigens für ihn geschaffenen „Arbeitsstabes Informationen und Analysen" zum Afrika-Spezialisten.
Sein persönliches Schicksal als DDR-Flüchtling legt die Annahme nahe, dass die Nähe von ANC und SWAPO zu der anderen deutschen Republik Genscher mit großer Sorge erfüllte. In und um Südafrika wurde auch in Deutschland Kalter Krieg geführt. Genscher hoffte, dies auch im Vertrauen auf die wesentlich größere Finanzkraft von Deutschland/West, diese Bindungen zumindest lockern zu kön-nen. Wichtig wurde in den späteren Jahren die finanzielle Unterstützung südafrikanischer, namibischer und simbabwischer Exilanten durch die in Bonn an-sässige Otto-Benecke-Stiftung. Sie hatte bis dahin nur Flüchtlinge aus Deutschland/ Ost und den anderen sozialistischen Staaten mit Stipendien gefördert. Auffallend war, neben anderen Maßnahmen, auch die großzügige Unterstützung des UN Namibia-Instituts in Lusaka.
So sollte es nicht verwundern, dass die bisherigen Positionen der Union im politischen Bonn jetzt nahezu in Vergessenheit gerieten. Auffällig war allerdings eine für alle Welt sichtbare Demütigung, die Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang Juni 1984 dem vom bayrischen Ministerpräsidenten Strauß (!!!) nach Bonn eingeladenen Ministerpräsidenten Pieter Willem Bothe im Bundeskanzleramt zufügte. In Reaktion auf den ihm von Strauß aufgezwungenen Empfang, der von
der EKD und u. a. dem erwähnten Erzbischof Denis Hurley auf das schärfste kritisiert wurde, ließ Kohl vor laufenden ZDF-Fernsehkameras das Sitzmöbel, auf dem er für gewöhnlich mit seinem Gast Platz nahm, aus dem Saal heraustragen. Natürlich verspielte er damit jede Chance, gemeinsam mit Großbritannien und den USA in dem Südafrika-Konflikt zu vermitteln, entsprach mit seiner dilettantisch-törichten Geste jedoch den Erwartungen der großen Mehrheit der Bevölkerung von Deutschland/West.
Nicht anders als die politischen Stiftungen der Unionsparteien, KAS und HSS, veranstaltete auch die FES seit Mitte der 70er Jahre eine große Zahl von Seminaren zu vornehmlich den internen Entwicldungen in Südafrika. Allerdings war die Palette der aus Südafrika angereisten Teilnehmer deutlich breiter als bei KAS und HSS. Darunter befanden sich durchaus Persönlichkeiten, die dem in Südafrika bis Anfang 1990 verbotenen ANC nahestanden oder insgeheim angehörten. Gleichwohl blieb der ANC gegenüber der SPD misstrauisch. Schließlich hatten die Sozialdemokraten unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt die sehr intensiven Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland/West und Südafrika nicht behindert und, anders als Genscher, noch nicht einmal Wirtschaftssanktionen das Wort geredet. Auch erscheint die Annahme gesichert, dass Deutschland/Ost erfolgreich bemüht war, eine Kontaktaufnahme zwischen SPD und ANC nach Möglichkeit zu verhindern. Eine gewisse Lockerung mag gebracht haben, dass ANC und SWAPO Anfang der 80er Jahre Verbindungsbüros einrichten konnten. Deren Arbeit wurde, unter Einschaltung des FES, vom Auswärtigen Amt finanziell unterstützt. Beiläufig sei erwähnt, dass das gleichfalls in Bonn ansässige Büro von Inkatha derartige Unterstützung nicht erfuhr. Der Friede mit Ger scher war Kohl ein zu hohes Gut! Erst im April 1986, dies im zeitlichen Zusammenhang mit einem Empfang bei Genscher, konnte der ANC-Präsident Oliver Tambo vor einem Auditorium in den Räumlichkeiten der FES einen Vortrag zum Thema „Economic and Political Perspectives of the ANC for a Liberated South Africa" halten. Zuvor hatte Staatsministerin Hildegard Hamm-Brücher den ANC-Generalsekretär Alfred Nero im AA empfangen.
Buthelezi hingegen war mehrfach auf Einladung der KAS in Bonn zu Gast und wurde nur einmal - von den Medien auf Wunsch Genschers mehr oder weniger totgeschwiegen - in den frühen 80er Jahren vom Bundesaußenrninister empfangen. Genscher hat sich bekanntlich auch Journalisten in seriösen Medien gekauft. Diesem Machtmenschen beugten sich aber nicht nur Journalisten!
Auffällig war, dass bei diesen und anderen Gelegenheiten wohl nie die von Helmut Schmidt im Mai 1977 Walter Mondale gestellte Frage „And replace it
(Apartheid) with hat?" aufgeworfen wurde. Auch die von keinem Geringeren als dem Bundesgeschäftsführer Egon Bahr gegebene Antwort, wonach eine Verfassung sui generis zu suchen sei, wurde bei den Sozialdemokraten wohl nie zitiert. Anders der langjährige FDP-Abgeordnete und Präsident der Liberalen Internationale, Otto-Graf Lambsdorff. Anders als die übrige FDP (inkl. FNSt), ließ er sich von Genscher nicht den Mund verbieten. Er äußerte sich nach auffallend vielen Gesprächen mit Südafrikanern, darunter nicht wenigen ANC-Führern wie Joe Slovo, Walter Sisulu u. a., ferner M. Buthelezi, deutlich öfter als andere Bonner Politiker zum Post-Apartheid-Südafrika. Feststellungen wie die der erstklassigen US-amerikanischen Journalistin Patti Waldmeir: „Democratic niceties will have to be sacrificed to the overwhelming need to restore stabilität" („Financial Times". London, vom 10. September 1993, S. 3), waren auch der Kern seiner zahlreichen öffentlichen Äußerungen. Lambsdorff wusste nur zu gut, dass in Südafrika eine kleine Erste und eine riesige Vierte Welt mühsam koexistierten. Und das, anders als oft in der Außenwelt behauptet, keinesfalls nur im Wirtschaftlichen. Die südafrikanische Gesellschaft war (und ist) kulturell unvorstellbar tief gespalten: so reichten rassenbedingte Streitigkeiten bis in Klöster und theologische Bildungsstätten.
Sozialdemokraten waren hier und da durchaus bereit, daraus Konsequenzen für das neue Südafrika zu ziehen. In der Regel genügte ein Hinweis auf das erwähnte Bahr-Interview! Das war auch das Petitum des Berichterstatters in seinen gut zwölf Beiträgen in den Zeitschriften „liberal" und „Presence Liberale".8 So
- Rhodesien nach dem Scheitern der Genfer Konferenz, in: liberal (Bonn) vol. 19 Nr. 3 (1977.3), S. 200-210; Das südafrikanische Krisen-Szenario, in: liberal (Bonn) vol. 19 Nr. 4 (1977.4), S. 268-280; SWA/Namibia vor der Unabhängigkeit? in: liberal (Bonn) vol. 19 Nr. 8/9 (1977.9), S. 604-616; Südafrikas Herausforderung an die Liberalen, in: liberal (Bonn) vol. 21 Nr. 718 (1979 7/8), S. 614-622; Der Süden Afrikas im Zeichen des Umbruchs, in: liberal (Bonn) vol. 22 Nr. 12 (1980.12), S. 940-948; Südafrika zwischen schwarzem Protest und weißem Dennoch, in: liberal (Bonn) vol. 23. Nr. 9 (198l.9), S. 684-695; Südafrika 1982: Revolution von oben - Revolution von unten?, in: liberal (Bonn) vol. 24 Nr. 11 (1982.11), S. 845-856; Südafrika - Chance und Herausforderung für die Liberalen, in: liberal (Bonn) vol. 25 Nr. 11 (1983.11), S. 855-867; Südafrika - Chancen einer friedlichen Konfliktlösung?, in: liberal (Bonn) vol. 29 Nr. 3 (1987.8), S. 9 -16; Perestroika in Pretoria? Nationale und internationale Reaktionen, in: liberal (Bonn) vol. 32 Nr. l (1990.2), S. 23-32; Codesa - Triumph und Ende des südafrikanischen Liberalismus, in: liberal (Bonn) vol. 34 Nr. 3 (1992.8), S. 47-54; Südafrikas Sieg über die Reaktion/Bündnis zwischen Afrikanern und Afrikaanern, in: liberal (Bonn), September l998/IV. Quartal, S. 39-42 L'Afrique du Sud après l'élection de Mugabe bzw. II Sudafrica dopo Zimbabwe bzw. South Africa after Zimbabwe bzw. Nach dem Machtwechsel in Zimbabwe: Gedanken zur Zukunft Südafrikas, in: Présence Liberale (Bruxelles) No. 2 (1981, April), S. 95-103 (franz. Ausgabe): S. 96-104 (ital. Ausgabe); S. 90-98 (engl. Ausgabe) und S. 101-109 (dtsch. Ausgabe);
auch sein Beitrag in dem Südafrika-Band der Naumann-Stiftung.9 Die Konferenz, die diesem Band zugrunde lag, war - von Gerhart Raichle (FNSt) hervorragend vorbereitet - als Gedankenaustausch zwischen liberalen südafrikanischen und deutschen Parlamentariern konzipiert. Dies Vorhaben scheiterte, da zwar an die 15 Südafrikaner, jedoch nicht ein deutscher Parlamentarier in die Theodor-Heuß-Akademie nach Gummersbach kamen. Eine ähnliche Erfahrung machte der Berichterstatter nach dem u. a. von der FNSt finanziell geförderten Treffen zwischen afrikaansen Dissidenten unter Führung von Van Zyl Slabbert und einer aus dem Exil angereisten ANC-Delegation unter Führung von Thabo Mbeki im Juli 1987 in Dakar. Der ANC war bekanntlich damals in Südafrika noch verboten. Er war Mitglied der Slabbertschen Delegation. Sein für die FNSt gefertigter Bericht10 interessierte in Fraktion und Partei fast niemanden. Denn in der Ära Genscher war nur der ANC, waren nur seine Äußerung für die Südafrika-Politik von Deutschland/West maßgeblich. In der Führung der FDP sprach einzig Lambsdorff aus, dass es für Südafrika nach 350 Jahren rabiater Rassentrennung eine simple Lösung nicht gab. Andere waren stärker. Sie wollten nicht die von Slabbert in Dakar ausgesprochene Binsenweisheit anerkennen: „you can only overcome Apartheid if you convince Whites, particularly Afrikaners that there is life beyond Apartheid". In diesem Sinn und in engem Einvernehmen mit Slabbert redete der Berichterstatter einem massive Minderheitenschutz das Wort. In Zeiten des Kalten Krieges war dies eine Teilung Südafrikas auf Kosten der Weißen (Slabbert: „sacrificial partition"), sprich: die Herauslösung des westlichen Kap und die Ansiedlung der Weißen, der Coloureds und der Inder ebendort. Später sah er die Lösung in einem Status ähnlich dem der Deutschen in der UdSSR (1924-1941 ) sowie, in heutiger Sprache, in einer Übernahme der von dem späteren Friedensnobelpreisträgers Marti Ahtisaari Anfang 2007 in Auftrag des UN-Sicherheitsrates vorgelegten Vorschläge zum Schutz ethnischer Minderheiten im Kosovo.
- South Afrika's Challenge to the Western World: A German View, in: South Africa - A Chance for Liberalism?, S. 355-367, Hrsg.: Friedrich-Naumann-Stiftung, Königswinter, 1985.
- Das Post-Apartheid-Südafrika/Zu dem Treffen von Afrikanern und Afrikaanern in Dakar, Bonn, 7/1987.
Arbeiten analogen Inhalts der Stiftung Wissenschaft und Politik11, gleichfalls von dem Berichterstatter verfasst, hatten gleichfalls keine Chance, im Bonner AA beachtet zu werden. Sie wurden bestenfalls als störend empfunden, und ihr Verfasser geriet in schwere Wasser. Er argumentiert hier in Sorge über die Zukunft der großartigen Demokratie, wie sie seit 1945 zunächst nur in Westdeutschland entwickelt werden konnte. Er argumentiert auch in sehr großer Sorge über die Zukunft des heute jederzeit von Implosion bedrohten demokratischen Südafrika. Der Johannesburger Hochschullehrer Achille Mbembe, der lange in Frankreich im Exil lebte, klagte zu Recht vor wenigen Ihren: „Aber auch viele junge Schwarze sind voller Zorn. Sie fühlen sich von ihrer eigenen Regierung abgeschrieben und im Stich gelassen. Noch immer bekommen sie nicht einmal ein paar Krumen von dem gefräßigen Festmahl ab, das um sie herum stattfindet [...]" An anderer Stelle schreibt er: „Die überwältigende Präsenz von Tod und Vergewaltigung besonders im täglichen Leben der schwarzen Bevölkerung akzentuiert dieses Dilemma nur noch." Deutschland/West und auch Deutschland/Ost haben in Südafrika viel Schuld aufsicht geladen.
Das bereits mehrfach angesprochene überragende Interesse von Hans-Dietrich Genscher an den ihm immer auf der ganzen Linie fremd gebliebenen Namibia und Südafrika ist nur damit zu erklären, dass Helmut Schmidt im Rahmen seiner ihm nach dem Grundgesetz zustehenden Richtlinien-Kompetenz die Außenund Sicherheitspolitik seiner Regierung oft bis in Detail selbst gestaltete. Dies bis in die späten 70er Jahre, man denke nur an den NATO-Doppelbeschluss. Ähnlich seinen Amtsvorgängern unter den Bundeskanzlern Konrad Adenauer und Willy Brandt hatte Genscher jahrelang große Probleme, sich neben dem Bundeskanzler
- Globalteilung als Strategie friedlichen Wandels in Südafrika in Polarität und Interdependenz; Beiträge zu Fragen der Internationalen Politik, Hrsg. Stiftung Wissenschaft und Politik, Bd. 1 der Reihe Internationale Politik und Sicherheit, Baden-Baden, 1978, S. 411-431, Perspektiven der unvollendeten Revolution in Südafrika, S. 308-402, in Albrecht Zunker (Hrsg.) Weltordnung oder Chaos/Beiträge zur internationalen Politik/Festschrift zum 75. Geburtstag von Professor Dr. Klaus Ritter, Baden-Baden, 1993; Südafrika und seine Nachbarn: Gemeinschaft in Anarchie oder in der Entwicklung?, S. 176-192 In: Jens van Scherpenberg und Peter Schmidt (Hrsg) Stabilität und Kooperation: Aufgaben internationaler Ordnungspolitik, Baden-Baden, 2000; Südafrikas dorniger Weg auf der Suche nach Frieden / Mit einem Vorwort von Van Zyl Slabbert, Nomos Verlagsgesellschaft, 1996, S. 281. Siehe auch die SWP-Studie M2390 des Johannesburger Humboldt-Stipendiaten Deon Geldenhuys, die in allen wesentlichen Aussagen unter dem Titel „Die Zukunft Südafrikas aus deutscher Sicht" in der Zeitschrift Außenpolitik (Hamburg) 1/1985, S. 80-98 abgedruckt wurde.
- Der Überblick, Hamburg, 2006, Nr. 3, S. 58-61 (60).
zu behaupten. Es ist nicht überspitzt zu sagen, dass die Pflege der Beziehungen zu Subsahara-Afrika für ihn eine ABM war. Vollauf zu Recht hat Vergau in seinem gestrigen Vortrag immer wieder auf das rastlose Engagement Genschers in Fragen des südlichen Afrikas hingewiesen! Wie bereits kurz erwähnt, war Verheugen bis zu seinem Ausscheiden aus dem Auswärtigen Dienst Ende der 70er Jahre Genschers engster Mitarbeiter. Letztlich hörte Genscher auf ihn und nicht auf afrikaerfahrene Berufsdiplomaten wie den hochqualifizierten Afrika-Beauftragten Helmut Müller. Es zählte nicht, dass auch Verheugen nicht über Erfahrung vor Ort verfügte. Erst als er, sehr wahrscheinlich von Arbeitslosigkeit bedroht, 1982 von der FDP in die SPD übergetreten war, begann er sich vor Ort zu informieren. Als sehr langjähriger Leiter des Bonner Verbindungsbüros der Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik („Ebenhausen" oder präziser: „Eggenberg") hat der Berichterstatter die SPD immer als ungleich kundiger und liberaler im Sinne von diskussionsoffener erlebt als die FDP. Das galt, nur hier kann er urteilen, für alle Bereiche westdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik. M. a. W., es genügten in der SPD-Fraktion nicht mehr die Plattitüden, mit denen Verheugen im AA Karriere gemacht hatte.
Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass Genscher und Verheugen ihre großen Karrieren in Bonn bzw. Brüssel mit der oft missbräuchlichen Beschäftigung mit den Konflikten in und um Namibia und Südafrika begannen. Genauso zweifelsfrei sollte sein, dass sie entscheidend zur Entdämonisierung vor allem von ANC und SWAPO beitrugen. Bis in die späten 80er Jahre wurden die Befreiungsbewegungen in der CSU um Strauß verteufelt. Die CDU hingegen erkannte etwa Mitte der 80er Jahre, dass Pretoria die entscheidenden Verhandlungen nicht mit Inkatha sondern mit dem ANC würde führen müssen. Aber anders als Genscher und Verheugen übernahm sie erst noch später kritiklos die Vorstellungen der Befreiungsbewegungen von einem Post-Apartheid-Südafrika und einem Post-Apartheid-Namibia.
Die große Stunde Genschers und Verheugens kam mit dem Amtsantritt von Präsident Jimmy Carter im Ianuar 1977 in Washington. Zu dessen engstem Stab gehörten die aus der Bürgerrechtsbewegung in den USA hervorgegangenen afroamerikanischen Aktivisten Andrew Young und Don McHenry. Nicht nur die Positionsgewinne der Sowjets und ihrer Verbündeten, darunter vor allem Kuba und Deutschland/Ost, ließen die Regierung Carter erkennen, dass der Westen die Dinge in Simbabwe, Namibia und der Republik Südafrika nicht länger treiben lassen könne. Auf ßetreiben Washingtons und Bonns wurde, bestehend aus den damaligen ständigen und nichtständigen westlichen Mitgliedern des UN-Sicher-
heitsrats, die sogenannte Namibia-Kontaktgruppe gebildet. Zu ihr gehörten demnach die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland/West und Kanada. Sie unternahm diplomatische Anstrengungen, Südafrika zur Aufgabe Namibias zu bewegen und diese frühere deutsche Kolonie in die international anerkannte Unabhängigkeit zu führen. In rastloser, nicht selten zugunsten SWAPOs parteiischer Diplomatie von März 1977 bis September 1978 - Herr Vergau hat gestern darüber detailliert berichtet - gelang es dafür, mit der UN-Sicherheitsratsresolution 435 (1978) einen völkerrechtlich verbindlichen Rahmen zu erstellen. Pretoria verweigerte jedoch die Mitarbeit an seiner Realisierung. Daraufhin ergriff Genscher einmal mehr die Initiative und veranlasste hochrangige Vertreter der vier übrigen Mitglieder der Kontaktgruppe, vom 16.-18. Oktober 1978 nach Pretoria zu reisen. Dort galt es, die Regierung des kurz zuvor ins Amt gewählten Ministerpräsidenten R W. Bothe dazu zu bringen, Namibia gemäß Resolution 435 freizugeben. Die USA, Großbritannien und Kanada entsandten ihre Außenminister. Frankreich, das das ganze Unternehmen für dilettantisch hielt, war nur durch den Staatssekretär im Außenministerium Olivier Stirn vertreten. Vor der Weiterreise nach Pretoria machte Genscher einen kurzen Zwischenstopp in Windhuk, um auch dort politische Gespräche zu führen. Er sah sich wohl auch als Befreier der etwa 20.000 deutsch stämmigen Namibier vom „Burenjoch". Es heißt, er habe damals eine bereits vorbereitete, entsprechende Rede halten wollen. Das unterblieb, als der ahnungslose Bundesaußenminister von seinen „lieben Landsleuten" mit einem gellenden Pfeifkonzert empfangen worden war.
Eine der größten Niederlagen seines politischen Lebens wartete dann in den nächsten Tagen in Pretoria auf Genscher. Im Verlauf der Namibia-Konferenz der westlichen Delegierten mit Ministerpräsident Pieter Willern Botha und Außenminister Roelof („Pik") Botha stellte letzterer Genscher die Frage, ob die Westmächte (weitere) Wirtschaftssanktionen gegen Pretoria für den Fall verhängen würden, dass Südafrika bei der Implementierung von 435 nicht voll mitarbeitete. Hier sei in Erinnerung gerufen, dass die Mitglieder der Kontaktgruppe zuvor in New York ein Sanktionspaket erarbeitet hatten, um Südafrika bei fortwährender Unbotmäßigkeit in die Knie zu zwingen. Genscher hatte das wohl für bare Münze genommen. Eine Warnung hätte ihm sein müssen, dass, auf britisches Betreiben, die westlichen Delegationschefs ohne ihre Mitarbeiter in Pretoria in den Konferenzsaal gegangen waren. So wollten UK-Außenminister David Owen und US-Außenminister Cyrus Vance erreichen, dass letzterer auch gegenüber seinen afroamerikanischen Mitarbeitern freie Hand haben würde. Als er die Frage Bothas bejahte, äußerten Genschers UK- und US-Kollegen, dass London und Washington dies
nicht tun würden. Jetzt verhöhnte Botha Genscher! Zwar erreichte Botha damit, dass Deutschland/West aus der von nun an realiter nur noch von London und Washington getragenen Namibia-Initiative ausgeschlossen und in eine wie auch immer zu gestaltende Südafrika-Initiative gar nicht erst einbezogen wurde. In einer Schärfe, zu der vielleicht nur die Briten fähig sind, hieß es im Foreign Office: „We were not always particularly happy with what Herr Genscher Said."
jedoch konnte Botha nach dieser Demütigung nie mehr ein Nachgeben in selbst im Grunde ganz unwichtigen Angelegenheiten erwarten. Und Genscher nahm diese Haltung am 1. Oktober 1982 mit in die (neue) CDU/CSU/FDP-Regie rung, in der er infolge des Desinteresses von Helmut Kohl an Außenpolitik ohnehin beste Karten hatte. Seit Oktober 1978 war die westliche Namibia-Initiative klinisch tot. Und von einer nachfolgenden Südafrika-Initiative war noch weniger zu hören.
Für große Unsicherheit sorgte dann mit ihrem Amtsantritt die Regierung von US-Präsident Ronald Reagan im Januar 1981. Das gilt insbesondere durch das von Vergau zu Recht hervorgehobene „Cuban linkage", d. h. die Verknüpfung der Namibia-Resolution 435 (478) mit dem Abzug der kubanischen Truppen aus Angola. Vergau scheint anzunehmen, diese Verknüpfung sei in Großbritannien ähnlich abrupt abgelehnt worden wie in Deutschland/West, Frankreich und (?) Kanada. Dagegen spricht, dass der damalige Gesandte in der britischen Botschaft in Washington jener Robin Renwick war, der später als Botschafter in Pretoria (1987-1991) über Südafrika wie ein Vizekönig oder Gouverneur herrschte („Sir Robin - His Excellent Excellency"). Für Großbritannien war damals und ist heute Südafrika besonders wichtig: sehr große britische Investitionen, ebensolcher Handel; ferner leben in Südafrika niemand weiß das präzise zu sagen - zwischen einer dreiviertel und einer Million britischer Staatsbürger. Gegenüber, beiläufig erwähnt, nur einhunderttausend Deutschen in Südafrika und zwanzigtausend Deutschen in Namibia. Schließlich wurde, aus unerfindlichen Gründen, in Deutschland/West die Existenz von sechs fertig gestellten und einer siebten, noch im Bau befindlichen Kernwaffe vom Typ Hiroshima offenbar weniger ernst genommen als in Großbritannien. Renwick war dann in Washington ständiger Gesprächspartner des neu ins Amt berufenen, im diplomatischen Geschäft noch unerfahrenen US Assistant Secretary of State for African Affairs, Chester A. Crocker. Natürlich weiterhin unter Ausschluss von Deutschland/West, verfolgten Briten und US-Amerikaner schließlich weiter den durch die Resolution 435 vorgezeichneten Weg. Von Vergau gestern nicht angesprochen, fanden zwischen Mai und Dezember 1988 in London, Kairo, Genf, New York und Brazzaville einschlägige Ver-
handlungen statt. Das absehbare Ende des Kalten Krieges machte den Durchbruch möglich. Die Kubaner zogen ihr seit Mitte der 70er lehre in Angola stationiertes Expeditionscorps ab, und Namibia wurde am 21. März 1990 unabhängig. Dass dieser Tag auch, wie Vergau in seiner Buchveröffentlichung („Verhandeln um die Freiheit Namibias ...") ausdrücklich erwähnt, Genschers 63. Geburtstag war, dürfte eher ein Zufall gewesen sein. Kein Zufall war, dass sich an diesem Tag der Jahrestag des Massakers im (südafrikanischen) Sharpeville zum 30. Mal jährte. Auch kein Zufall dürfte gewesen sein, von Vergau gleichfalls nicht erwähnt, dass sich Windhuk 18 Monate lang weigerte - außer in ca. zwölf anderen, durchaus auch westlichen Hauptstädten -, in Bonn eine Botschaft einzurichten. Stattdessen ein Generalkonsulat in der sterbenden DDR (März 1990!). Nicht unerwähnt bleiben darf, dass das wiedervereinigte Deutschland sehr schnell zum wichtigsten entwicklungspolitischen Partner Namibias wurde und bis auf den heutigen Tag geblieben ist.
Zurück zur Südafrika-Politik in Deutschland/West. Die innenpolitische Debatte erfuhr mit dem Wechsel Verheugens von der FDP zur SPD zunächst (1982) eine Belebung. An übrigens in Afrika geborenen Spezialisten vorbei - Werner Schuster war im damaligen Tanganyika, Hans-Günther Toetemeyer im damaligen Südwestafrika geboren worden - wurde er, obwohl damals immer noch ohne Erfahrungen vor Ort, zunächst außerhalb des Deutschen Bundestages und mit seiner Wahl in das Parlament (Anfang 1983) zum Sprecher der SPD für afrikanische Fragen ernannt. In der SPD rechnete man damit, dass auf Drängen von Strauß Bundeskanzler Helmut Kohl seinen Außenminister von seinem Kurs der Anbiederung an ANC und SWAPO abbringen würde. Dann, so die Kalkulation der Spitze der SPD, würde Verheugen Genscher im Bundestag unter Berufung auf die gemeinsame Arbeit im AA der Kompromisse mit der „Reaktion" bezichtigen. Diese Rechnung ging nicht auf. Wie bereits angesprochen, ließ der außenpolitisch damals desinteressierte Kohl Genscher freie Hand. Zumal er von der Mehrheit im Parlament her notfalls ohne CSU, nicht aber ohne FDP, regieren konnte. An Genschers Südafrika- und Namibia-Politik gab es nur wenig, was Verheugen hätte kritisieren können. Jetzt wurde die erwähnte Frage Schmidts an Mondale, was denn an die Stelle von Apartheid treten solle (Mai 1977), nicht mehr aufgewarfen. Auch die Forderung Egon Bahrs war längst in Vergessenheit geraten. Die Sozialdemokraten übernahmen jetzt kritiklos die Vorstellungen von ANC und SWAPO.
Streitig blieb vielleicht nur noch die Frage von Wirtschaftssanktionen. Dazu war, mit Ausnahme von Bundesaußenminister Genscher, in Bonn wohl kein
Regierungspolitiker bereit, weder unter Helmut Schmidt noch unter Helmut Kohl. Und zumindest in Erinnerung an seine Niederlage von Oktober 1978 wusste niemand besser als Genscher, dass Großbritannien und bis zum sich abzeichnenden Ende des Kalten Krieges auch die USA es verstehen würden, die Verhängung derartiger Zwangmaßnahmen zu verhindern. So blieb die Bilanz für die Befreiungsbewegungen sehr unbefriedigend: Im November 1977 beschloss der UN-Sicherheitsrat ein unbefristetes Waffene Embargo. Auch wenn es wahrscheinlich außer von Deutschland/West und vielen weiteren, sicher nicht nur westlichen Staaten missachtet wurde, so hat es die Beziehungen Pretorias zum Westen doch sehr belastet. Ernst war auch der sogenannte Code of Conduct, d. h. Maßregeln zur Gleichbehandlung von schwarzen und weißen Arbeitnehmern in Unternehmen aus EG-Staaten. Dieser Code of Conduct wurde, obwohl er rechtlich nicht verbindlich war, allgemein befolgt. Zu groß war die Sorge der Unternehmen, auf Drängen des dortigen „black caucus" vom US-Kongress vor die Wahl gestellt zu werden, entweder die Märkte in Südafrika oder die in den USA aufzugeben. Schließlich beschloss die EG im September 1985 ein Verbot des Exports von Erdöl nach Südafrika, ferner Einschränkungen bei der naturwissenschaftlichen und der kulturellen Zusammenarbeit sowie Beschränkungen bei der Akkreditierung südafrikanischen Militärattachés in EG-Hauptstädten. Deutschland/West war übrigens nie durch einen Militärattaché in Südafrika vertreten.
Schließlich sind die sogenannten positiven Maßnahmen der EG zu erwähnen. Sie zielten im Wesentlichen auf die Förderung der Ausbildung von Schwarzen. Partner der EG waren ausschließlich südafrikanische NROs, die dem ANC verbunden waren. Das Bestreben der Unionsparteien, über die von der CSU gestellten Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit auch Inkatha solche positiven Maßnahmen zugutekommen lassen, scheiterten schon am Nein des AA. So wurde dieser Vorschlag in Brüssel wohl gar nicht erst vorgebracht.
Über das Ende des Ancien Regime (10. Mai 1994) ist hier nur kurz zu berichten, da Verantwortliche aus Deutschland/West nicht beteiligt waren! Das besorgte eine Handvoll erstklassiger britischer und US-amerikanischer Diplomaten um den bereits erwähnten Botschafter Sir Robin Renwick (1987-1991) und den eher unauffälligen US-Botschafter Bill Swing, der die Diplomatie seines britischen Kollegen („Sir Robin His Excellent Excellency") mit der gewaltigen Wirtschafts- und Militärmacht der USA unterstützte. Hingegen vermittelte US-Botschafter Princeton Nathan Lyman, unterstützt von UK-Botschafter Sir Anthony Reeve, von Ende 1993 bis Anfang 1994 den „Accord on Afrikaner Self Determination" zwischen dem ANC und den von General Constand Viljoen repräsentierten kon-
servativen - nicht reaktionären! - Afrikaanern. An seiner Unterzeichnung durch u. a. Thabo Mbeki und Constand Viljoen am 23. April 1994 im Westflügel des Regierungssitzes Union Building in Pretoria nahm zusammen mit dem Iren Martin Cullen der Berichterstatter als halboffizieller EU-Beobachter teil. Anwesend waren Lyman und Reeve und eine Reihe rangniederer Diplomaten aus verschiedenen in Pretoria ansässigen Botschaften. Zweierlei erregte das besondere Interesse des Berichterstatters. Obwohl eingeladen, war die deutsche Botschaft unter Botschafter Hans-Christian Ueberschaer im Union Building nicht vertreten. Und der Botschafter der Russländischen Föderation gratulierte Viljoen später geradezu überschwänglich. Den Russen sind die Probleme einer multiethnischen Gesellschaft ungleich vertrauter als anderen Nationen. Fatal ist, dass die Umsetzung dieses „Accord" in die Tat später an der Zerstritten heit der Afrikaner scheiterte. So sehen sie sich von ihrem letzten Staatspräsidenten, F.W. de Klerk, einem im Grunde reaktionären Schwächling, nach Versailles geführt (Van Zyl Slabbert).
Südafrika blieb der Rückschlag erspart, zu einem Staat sozialistischer Ausrichtung zu werden. Andernfalls wäre es wohl schon vor 1989/90 implodiert. Stattdessen strömten seit Anfang der 90er I h r e Experten aller nur denkbaren deutschen Parlamente, Behörden und NROs an das Kap und bemühten sich, die staatliche und wirtschaftliche Ordnung des neuen Südafrikas gemäß dem westdeutschen, heute gesamtdeutschen Vorbild zu gestalten. Letzt vereinigten sich Claqueure aller Bundestagsfraktionen. Die altgedienten unter ihnen, wie beispielweise Helmut Schäfer, Gerhart Baum und - erstaunlicherweise - auch Burkhard Hirsch, durften sich als Vordenker fühlen. Bei seinem gestrigen Vortrag gab Hans-Joachim Vergau einen tiefen Einblick in das Niveau der Diskussion.
Wer, wie außer dem Berichterstatter nur sehr wenige „SA watchers", den Erfolg dieser deutschen Politik bezweifelte, der musste sich in der Regel als Rechtsradikaler diffamieren lassen. Die Kritik steigerte sich hin bis zur Hysterie, als er in einem Leserbrief davor warnte, die Dinge mit der Folge aus dem Ruder laufen zu lassen, dass über eine Strecke von bald 10.000 km 1,5 Mio. EU-Bürger aus Südafrika zu evakuieren seien würden; das unter Nutzung des nur US-Amerikanern und Briten zugänglichen, unter dem Kommando der US-Luftwaffe stehenden, unweit Gaborone/Botswana gelegenen Großflughafens Molepolole (FAZ vom 30. August 1999, Seite 10, „Nicht undenkbar: Bundeswehr-Soldaten in Südafrika"). Die Plattitüden von Genscher und Verbeugen hatten in der Südafrika-Politik Deutschlands endgültig obsiegt! Es war nicht unbedingt Idealismus, der längst alle Politikberater und jetzt, bis auf eine knappe Handvoll, auch alle Journalisten diesen Kurs
einschlagen ließ. Es war eben ein Wunder geschehen, ein Land ohne jede rechtsstaatliche und demokratische Kultur war zu einer Modell-Demokratie geworden.
Das heutige Südafrika ist mit einer Fülle sehr ernster Probleme konfrontiert, die zu lösen einer liberalen Demokratie kaum möglich sein wird. Zumindest die Ursprünge dieser Herausforderungen reichen sehr weit in die Zeit des Ancien Regime zurück: massive, oft strukturelle Arbeitslosigkeit, darüber hinausreichende bittere Armut, die HIV/Aids-Pandemie, eine ebenso blutrünstige, wie oft sinnlose Gewaltkriminalität, das Fehlen jeder rechtsstaatlichen und demokratischen Kultur, ein massiver Ausbildungsnotstand sowie, sicher die folgenschwerste Hinterlassenschaft, eine durch die rassistische Vergangenheit verursachte Zerstörung von Hunderttausenden von Familien. Keine Regierung der Welt hätte diese Aufgaben in kaum eineinhalb Jahrzehnten auch nur ansatzweise in den Griffbekommen. Nicht unvermeidbar hingegen war, dass sie seit 1994 massiv ausuferten. Genau das ist jedoch unter den Präsidenten Nelson R. Mandela (1994- 1999) und Thabo Mbeki (1999-2008) geschehen. Das Grundübel ist hier, dass Pretoria die öffentliche Verwaltung des Landes zerstörte. Bis 1994 trugen vornehmlich Afrikaner alle ihre Bereiche. Außer in der Finanzverwaltung unter Trevor Manuel und in der Zentralbank unter Tito Mboweni wurden überall die berufsgerecht ausgebildeten und berufserfahrenen Staatsdiener in ihrer großen Mehrzahl entlassen. An ihre Stelle traten der Allianz von ANC/Cosatu/SACP verbundene Beamte, denen sowohl die entsprechende Ausbildung als auch Erfahrung fehlen. Es sind eben nur, wie es im englischsprachigen Teil der Welt heißt, political appointees.
Katastrophal ist das etwa im Bereich der Polizeiarbeit, der Strafjustiz und der Strafvollstreckung; 18.500 vollendete Morde - über 50 pro Tag -, ungezählte, da unzählbare, versuchte Tötungsdelikte, Vergewaltigungen, Raubüberfälle, Entführung (hijacking) von Fahrzeugen, Hauseinbrüche user. werden so möglich. Die Masse der Straftaten, dies eine Folge von Unfähigkeit und Korruption, bleibt polizeilich unbearbeitet. Wo dies anders ist, sind aus denselben Gründen die Gerichtsverfahren häufig mangelhaft. Und wenn ein Delinquent tatsächlich verurteilt wird, kann er sich häufig gegen Bestechung von Vollzugsbeamten der Strafverbüßung entziehen. Ferner haben Ineffizienz und Korruption der Beamten an den Außengrenzen es über fünf Millionen Ausländern (vorwiegend aus anderen afrikanischen Ländern) ermöglicht, illegal nach Südafrika einzureisen. Natürlich führte das zu weiterer Arbeitslosigkeit und Kriminalität sowie einem weiteren Ansteigen der HIV/Aids-Pandemie. Das Einzige, was an den aus alledem resultierenden fremdenfeindlichen Unruhen von Mai 2008 überraschte, war, dass sie nicht viel früher ausbrachen und weit mehr Opfer forderten. Die einschnei-
dende Schwächung der Zollverwaltung führt zum massenweise illegalen Zustrom von Gütern aller Art aus China, aus der Türkei und anderen Drittstaaten. Es bedarf keiner Ausführungen zu der Frage, welche Folgen die Überschwemmung Südafrikas etwa mit ausländischen Kleidungsstücken für die lokale Produktion hat. Die Folge kann nur weitere Arbeitslosigkeit sein. Schließlich sind diese und andere Schwächen der öffentlichen Verwaltung die Hauptursache für die massenweise Auswanderung von Fachleuten aller Art (keineswegs nur weißen) nach Neuseeland, Australien, Nordamerika und Westeuropa. Südafrika droht auszubluten! Vor allem im ländlichen Raum hat der weitgehende Zusammenbruch der Lokal- und Regionalveiwaltung schlimme Folgen für den Alltag. Man beachte nur den Zustand der Nebenstraßen!
Eine an Südafrika desinteressierte deutsche Politik übersieht das alles. Nicht übersehen konnte sie drei andere Entwicklungen: Voraussehbare, aber nicht vorausgesehene Engpässe bei der staatlichen Energieversorgung (Escom) führen dazu, dass bis 2013 ca. 10% der bisherigen Strommenge nicht mehr zur Verfügung stehen. Und das in einem Land der Bergwerke! Mangels sachkundiger Staatsdiener werden Trink- und Abwassersysteme heute häufig nicht mehr ordnungsgemäß gewartet, geschweige denn repariert. Schließlich wurde der nationalen Fluglinie Suid-Afrikaanse Lugdiens kürzlich von der US Federal Aviation Authorithy der Entzug der Landerechte für den Fall angedroht, dass sie ihre infolge Abwanderung qualifizierten Personals sinkenden Sicherheitsstandards nicht wettmache. „Affirmative action" hat vieles an den Rand des Zusammenbruchs geführt.
Über die Grenzen Deutschlands hinaus wurde aber selbst die These der Ministerin für den öffentlichen Dienst, Geraldine Fraser-Moleketi, ignoriert, die Anfang 2008 äußerte, alleine auf nationaler Ebene fehle es an über 42.000 qualifizierten und hochqualifizierten Staatsdienern.
Unfassbar ist, dass auch die EKD zu alledem schweigt, obwohl sie damit auch das Erbe des ihr früher sehr nahestehenden Kämpfers gegen Apartheid, des großen Afrikaaners Beyers Naudé verrät.
Das neue Südafrika hat insbesondere unter seinem Staatspräsidenten Thabo Mbeki alles daran gesetzt, in- und ausländische Investoren anzuziehen. Weniger für Händler als für Investoren stellt jedoch der Verfall der öffentlichen Ordnung ein großes Hindernis dar. Angezogen fühlen sich zunehmend nur noch „Heuschrecken". Zudem herrscht in der Geschäftswelt zunehmende Unsicherheit über die künftige Wirtschaftspolitik des seit September 2008 amtierenden Staatspräsidenten Kgalema Motlanthe und seines im Mai 2009 zu wählenden präsumptiven
Nachfolgers Jacob Zuma. Schließlich wurden sie beide im Dezember 2007 in Polokwane mit massiver Unterstützung der SACP und des ihr heute nahestehenden Gewerkschaftsdachverbandes Cosatu in die ANC-Führungsäınter gewählt. Beide haben zwar die liberale Wirtschaftspolitik Thabo Mbekis, Trevor Manuels und anderer mitgetragen, jedoch stößt deren Politik an der Basis zunehmend auf Kritik, da sie der Mehrheit der schwarzen Südafrikaner noch mehr Armut gebracht hat. Mbeki und seine Mitstreiter waren in G8-Kreisen, nicht aber in den townships zu Hause. Es bleibt abzuwarten, für welchen Kurs Motlanthe und später Zuma sich entscheiden werden. Sie werden sehr vorsichtig sein müssen! Denn schon, um nur ein Beispiel zu nennen, die Wahl des SACP-Vorsitzenden Gwede Mantashe zum neuen Generalsekretär des ANC wird von vielen Geschäftsleuten als Weichenstellung angesehen werden.
Bei aller Skepsis, mit der die künftige Entwicklung Südafrika gesehen werden muss, darf nicht übersehen werden, mit welchem Einfühlungsvermögen zumindest ein Teil der neuen Führungsriege des ANC, insbesondere Motlanthe, Zuma und der neue Schatzmeister Matthew Phosa, auf die Afrikaner zugehen. Sie haben offenbar erkannt, dass sie ihrer dringlich bedürfen, um den Kollaps der Kaprepublik zu verhindern. Es muss dem ANC gegen wahrscheinlich sehr vielfältige Widerstände, vor allem in den eigenen Reihen, gelingen, viele der abgehalfterten Staatsdiener dafür zu gewinnen, in ihre alten Positionen in Polizei, Einwanderungs- und Grenzkontrolle, Zoll, Lokal- und Regionalverwaltung, Gesundheitswesen, Schulwesen auf allen Ebenen, Justiz inkl. Strafvollzug und auch in den Streitkräften etc. zurückzukehren. Dies Unterfangen ist umso schwieriger, als viele dieser Positionen, wie geschildert, mit neuem Personal besetzt sind. Dennoch muss der ANC hier Erfolg haben; die Alternative sind kongolesische, sudanesische oder zumindest nigerianische Zustände. Hoffnung sollte geben, dass Motlanthe Ende September 2008, also am Vorabend seiner Wahl zum Staatspräsidenten, sich in einer Rede in der Universität Stellenbosch an die Afrikaaner wandte und ihre Bedeutung für das Gelingen des neuen Südafrika mit sehr deutlichen Worten hervorhob. Von Zuma gibt es eine ganze Reihe von Gesten, die seine konstruktive Haltung in den Verhandlungen mit Viljoen Mitte der 90er Jahre untermauern: den Besuch in einer Siedlung armer Afrikaner, den Besuch auf einer Farm, die einem der vielen ermordeten afrikaansen Farmer gehört hatte, und Gesten der Wertschätzung gegenüber dem afrikaanssprachigen Parlamentarier Pieter Mulder, dem politischen Erben Constand Viljoens. Auffällig auch die Ansprache, die Matthew Phosa auf Afrikaans(!) Ende August 2008 in Pretoria/Tswane vor Anhängern Mulders hielt. Auch er sparte nicht mit Ausdrücken der
Wertschätzung für die Afrikaner und hob, ähnlich Motlanthe später in Stellenbosch, ihre Bedeutung für das Land hervor. Unter den gegenwärtigen Umständen ein dringlicher Beitrag zur Stabilisierung eines sehr fragilen Staatswesens!
Vielleicht traf die liberale Wochenzeitung „Mail & Guardian" aus Johannesburg den Nagel auf dem Kopf, als sie in ihrer Ausgabe vom 30. März 2007 in einem Artikel über die Kontakte Zumas zu Afrikaanern titelte: „Generaal Jacobus Zuma?" Wohlgemerkt, nicht der englische General, sondern das afrikaanse Generaal!
Anders als den vielen nach wie vor politisch korrekten ausländischen Beobachtern ist der heutigen Regierungs- und Parteispitze sichtlich klar, dass sie der abgehalfterten Afrikaner bedürfen, um zumindest zu versuchen, dem Land Stabilität zurückzugeben. Sie müssen sie von der Gewissheit befreien, Fremde im eigenen Land zu sein; mit anderen Worten: Ohne einen ganz massiven Minderheitenschutz (copper-bottomed guarantees of existence) werden die Afrikaner ihre Haltung äußerer und, viel häufiger, innerer Emigration beibehalten. Damit wird Südafrika verkommen, ob nun mit oder ohne Fußball-WM-Turnier! Wie die Lektüre der afrikaanssprachigen Medien (Beeld, Rapport, Die Vrye Afrikaan u. a.), wie die vom AfriForum, einer Bürgerinitiative der Gewerkschaft Solidariteit, organisierten Protestmärsche zeigen, nimmt auch (!) die Verzweigung der Afrikaner zu. Und diese Demonstranten kommen eben nicht nur aus dem reaktionären, sondern auch aus dem konservativen und dem liberalen Lager. Auch in Südafrika kann Verzweiflung über die Unerträglichkeit des Alltags, ja schon der Verlust der Sprache -Afrikaans kann sich unter den gegebenen Umständen nicht neben der Weltsprache Englisch behaupten - durchaus zu Terror führen. Es wäre ein Wunder, gäbe es hier keine illegalen Waffenlager und potenzielle Terroristen mehr! Es muss nicht bei den dilettantischen Anschlägen der sogenannten Boeremag von 2002 bleiben.
Als Anknüpfungspunkt kommt nur der bereits erwähnte, von Washington mit Unterstützung Londons zustande gebrachte „Accord on Afrikaner Self-Determination" in Betracht. Bekanntlich wurden seine Kernaussagen später in Artikel 235 der südafrikanischen Verfassung aufgenommen, aber eben nicht in die Tat umgesetzt. Wie kann diese Absprache heute ausgelegt werden? Am ehesten wohl im Sinne der Vorschläge, die der spätere Friedensnobelpreisträger Marti Ahtisaari im Auftrag des UN-Sicherheitsrates für das Kosovo erarbeitete und Anfang 2007 vorlegte. Denn darin spielen Fragen des Minderheitenschutzes die entscheidende Rolle.
Im Anhang II zu den „Allgemeinen Prinzipien" des Entwurfs einer Verfassung für das Kosovo wird bestimmt, dass die Angehörigen ethnischer, linguistischer und religiöser Minderheiten außer den allgemeinen Menschen rechten und Grundfreiheiten Gruppenrechte haben. Letztere zielen darauf, dass Minderheiten in multiethnischen Staaten ihre „kulturelle Identität" bewahren, beschützen und entwickeln können. Das wird unter anderem dadurch ermöglicht, dass auf allen Ebenen Unterricht in ihren Muttersprachen erteilt wird und sie einen Anspruch auf eigene Medien etc. haben. Von großer Bedeutung ist des Weiteren die von Ahtisaari vorgeschlagene neue Ziehung von Gemeindegrenzen, um sprachlich möglichst homogene Gebietskörperschaften zu schaffen (Anhang III). Ferner ist eine Überrepräsentation der ethnischen Minderheiten in den Exekutiv- und Legislativorganen vorgesehen. Zudem haben die Minderheiten im zentralen Parlament von Pristina ein Veto bei Gesetzesvorhaben, die Sprach- und Erziehungsfragen oder die Änderung von Gemeindegrenzen betreffen. Erwähnt sei noch, dass die im Parlament von Skopje vertretenen Parteien, schon im Interesse der Stabilität ihres Landes, sich zugunsten der Minderheiten in Mazedonien auf eine analoge Regelung einigten.
Die vom ANC geführte Regierung verfolgt seit 1994 in Bezug auf die Afrikaaner die exakt gegenteilige Politik. Sie beschwört die Existenz einer Regenbogennation, die es schlichtweg nicht gibt. Besonders spürbar ist das Zurückdrängen des Afrikaansen im Schulwesen: Wird ein anderssprachiges Kind - worauf es einen Anspruch hat - von einer afrikaanssprachigen Schule aufgenommen, so wird diese automatisch zur Parallel- oder Dual Medium School; längerfristig sind damit die Tage von Afrikaans an dieser Schule gezählt. In den neuen Schulbüchern taucht die Geschichte der afrikaanssprachigen Weißen nur noch in Fußnoten auf. Schließlich hat die Regierung erzwungen, dass alle fünf ehemals afrikaanssprachigen Universitäten heute bilingual sind. Auch hier wird das Englische auf die Dauer das Afrikaans verdrängen. Abschließend der Hinweis, dass, wie in Mazedonien bereits geschehen und wie für das Kosovo vorgesehen, nach Mai 1994 die Gemeindegrenzen auch in Südafrika neu gezogen worden sind allerdings mit dem gegenteiligen Ergebnis dessen, was in Südosteuropa im Interesse von Stabilität geschieht: Bewusst wurden die Grenzen so gezogen, dass die Gemeinden heute mehrsprachig sind. Die Zurückdrängung des Afrikaansen trifft übrigens auch die 4,2 Mio. „Kapmischlinge", die in ihrer großen Mehrheit Afrikaans als Muttersprache haben.
Westliche Politik wird gut beraten sein, in dem hier geforderten Sinn auf die südafrikanischen Protagonisten einzuwirken. Andernfalls wird die erstmals 1991
von Breiten Breytenbach, einem langjährigen politischen Gefangenen, geäußerte Furcht - „L'Afrique du Sud va bientôt traverser les variante infinies de la barbarie" - Realität.