Das demokratische Südafrika am Abgrund
Klaus Freiherr von der Ropp
Mitte der 1990er Jahre begleitete allgemeine Euphorie den Machtwechsel in Südafrika. Nach 350 Jahren rassistischer Herrschaft der weißen Afrikaner wurde diese nach weitgehend demokratischen Wahlen im Mai 1994 durch eine Regierung der übergroßen schwarzen Mehrheit (circa 80 Prozent) abgelöst. Die damit eingeleitete demokratische Entwicklung geriet jedoch in den letzten Jahrzehnten auf eine schiefe Ebene. Südafrika steht heute kurz davor, zu einem weiteren gescheiterten Staat in Afrika zu werden.
Es war mit dem Ende des Kalten Krieges gelungen, einen der bedrohlichsten Regionalkonflikte friedlich beizulegen! Hatte doch kein Geringerer als Egon Bahr knapp zwei Jahrzehnte zuvor im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ (21. August 1977) gewarnt: „Ohne Verhandlungslösung ist die Gefahr des Dritten Weltkrieges ständig gegenwärtig.“ Groß war in der westlichen Welt zuvor die Sorge gewesen, die Sowjetunion könne sich mit dem vom ANC regierten Südafrika und dem von Robert Mugabe beherrschten Zimbabwe bei für ihre Rüstungsindustrien wichtigen Rohstoffen (Stahlveredler) zu Kartellen nach dem Vorbild der OPEC zusammenschließen. Und zweitens fürchteten vor allem Großbritannien, die USA und Israel, Südafrika werde unter dem ANC zu einer unkontrollierbaren Quelle der Weitergabe von Nuklearwaffen und Kenntnissen über deren Herstellung sowie entsprechenden Waffenträgern werden.
Nach der 1985 erfolgten Wahl von Michail S. Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU und dem damit verbundenem Ende des Kalten Krieges gelang es London und Washington, das Regime der weißen Südafrikaner um den schwachen Staatspräsidenten F.W. de Klerk zu stürzen und den ANC um den großen Freiheitskämpfer Nelson R. Mandela an die Macht zu bringen. Damit bot sich der Bonner Regierung, die am 17. Oktober 1978 wegen mangelnder Sachkunde auf Betreiben Großbritanniens aus allen Verhandlungen über die Zukunft des südlichen Afrikas für gut zehn Jahre ausgeschlossen worden war, die Gelegenheit, beim Aufbau des neuen Südafrikas eine sehr aktive Rolle zu übernehmen. (1) So lehnte sich die neue Verfassung der Kap-Republik eng an das deutsche
Grundgesetz an. Und ein Kreis bedeutender deutscher Unternehmen schloss sich zur „Südliches Afrika Initiative der deutschen Wirtschaft“ (SAFRI) zusammen. Ihr Ziel war, in Anlehnung an die „Tigerstaaten“ in Südostasien das neue Südafrika und seine Nachbarn zu den afrikanischen „Löwenstaaten“ zu entwickeln. Schließlich schlug der seinerzeitige deutsche Botschafter in Pretoria, Hans Christian Ueberschaer – allerdings vergeblich – vor, die ihm gut bekannte Europäische Volkspartei möge dem ANC Beobachterstatus einräumen.
Aber nicht nur in Deutschland kam es bei der Einschätzung der Politik des neuen Südafrikas zu grotesken Fehleinschätzungen. So schlugen etwa die beiden anerkannten US-Sicherheitspolitiker Ivo Daalder und James Goldgeier vor, neben Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea auch Südafrika in die NATO aufzunehmen (Foreign Affairs, 2006, Nr. 9/10).
Zum Niedergang Südafrikas
Nach gut 30 Jahren der Herrschaft des ANC und seiner „Allianzpartner“ SACP (South African Communist Party) und Cosatu (Congress of South African Trade Unions) ist die allgemeine Stimmung eine völlig andere. Am besten hat das der britische „Economist“ (17. Dezember 2022) ausgedrückt: Mittels eines Wortspiels wandelte er das langjährige Wahlversprechen des ANC „a better life for all“ in die Überschrift „a bitter life for all“ um.
Und die Bonner Fachzeitschrift „afrika süd“ veröffentlichte im März/April 2023 eine Titelseite, die zwei südafrikanische Arbeiterinnen vor einer Blechhütte zeigt – mit dem Zusatz „from democracy to disaster“ und dem Datum der ersten demokratischen Wahl. So beträgt die Arbeitslosenquote seit Jahren über 33 Prozent. Und das bei sehr niedrigen Sozialleistungen! Wie entbehrungsreich das Leben für die Mehrheit der Südafrikaner heute ist, machte das liberale Johannesburger Center for Risk Analysis kürzlich in einer vorzüglichen Studie mit dem treffenden Titel „Things fall apart“ deutlich. Die Ausplünderung des Staates („state capture“) vor allem in der Ära von Staatspräsident Jacob Zuma (2009-2018), massive Korruption und allgemeine Schlamperei haben dazu geführt, dass das einstige Schwellenland Südafrika zu einem weiteren gescheiterten Staat in Afrika zu werden droht.
Als Nachfolger des durch und durch korrupten Zuma wurde der vermeintlich integre Cyril Ramaphosa zunächst 2017 zum Präsidenten des
ANC und im Folgejahr zum Staatspräsidenten gewählt. Seinerzeit war am Kap zu hören, er habe sich ähnlich Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren in den USA einen „New Deal for Jobs, Growth and Transformation“ zum Ziel gesetzt (Daily Maverick, 30. November 2017). Stattdessen haben der ANC und auch Ramaphosa selbst aber den Kurs Zumas fortgesetzt und das Land weiter ausgeplündert.
Zerstörung der modernen Sektoren der Volkswirtschaft
Die einst in weiten Teilen hochentwickelte Wirtschaft Südafrikas liegt heute am Boden. Dafür gibt es viele Gründe: Die Auswanderung von weit mehr als 1 Millionen gut ausgebildeter, in aller Regel jugendlicher Fachkräfte. Darunter auch sehr viele afrikaanssprachige Weiße und Braune sowie „Inder“, jedoch auch viele Schwarze. Auch Letztere fliehen vor Korruption und nicht selten blutrünstiger Kriminalität. Entscheidend geschwächt wurde das neue Südafrika schließlich durch sein miserables Schulwesen und durch eine „Reform“, richtiger die faktische Abschaffung, nahezu aller Sektoren der vormals von weißen und im westlichen Kap braunen Afrikaanern beherrschten staatlichen Verwaltung (inklusive Krankenhaus- und Schulwesen). Auch in den meisten der circa 300 staatseigenen Unternehmen wurde gut ausgebildeten und berufserfahrenen Mitarbeitern gekündigt („affirmative action“) und durch häufig unqualifizierte, aber politisch genehme Schwarze abgelöst („cadre deployment“).
Besonders ist hiervon der gigantische Stromkonzern Eskom, auf den 95 Prozent der nationalen Stromversorgung entfallen, betroffen. Lange Jahre schon war dies das alles überragende Problem der südafrikanischen Wirtschaft. Die allmonatlichen Verluste dieses mit über 20 Milliarden US-Dollar ohnehin hochverschuldeten Konzerns betrugen 50 Millionen US-Dollar. Tägliche Stromausfälle von bis zu zwölf Stunden, in Einzelfällen noch länger, ziehen alles in Mitleidenschaft. Verantwortlich für die Stromausfälle sind Schlamperei, Sabotage, Diebstähle und vor allem unqualifiziertes Personal.
Hoffnung kam auf, als der erfahrene Manager André de Ruyter mit Zustimmung des ANC Ende 2019 die Führung des Konzerns übernahm. Bei seiner Arbeit stieß er allerdings umgehend auf heftigen Widerstand. Dieser gipfelte in der Anschuldigung, die Arbeit des neuen CEO sei konterrevolutionär und ziele darauf, Eskom zu zerstören. Zunehmend frustriert warf de Ruyter schließlich das Handtuch und kündigte. In einem
Fernsehinterview erhob er schwerste Vorwürfe gegen das Unternehmen, u.a. den Vorwurf, in Eskom herrschten vier mafiaähnliche Verbrechersyndikate. Auch nannte er das Unternehmen einen „Futtertrog“ für die neue Elite.
Die Vorgänge bei Eskom sind nicht die einzigen Anzeichen für die kriminelle Unterwanderung Südafrikas. Denn heute befinden sich die meisten staatseigenen Unternehmen in einer vergleichbaren Lage. Besonders katastrophal sind die Folgen der Ausplünderung bei der Eisenbahngesellschaft Passenger Rail Agency of South Africa. Auch deren „erbärmlicher Zustand“ ist in den zurückliegenden gut zehn Jahren durch schlechte Führung, Korruption und Sabotage, durch Diebstahl und Vandalismus ausgelöst worden (afrika süd 2023/ 1).
Die verheerende Lage des Landes wurde der Außenwelt deutlich, als Ramaphosa Ende 2022 nicht am alljährlichen „US-African Leaders Summit“ in Washington teilnahm und er kurze Zeit später abermals seine Teilnahme am Weltwirtschaftsforum in Davos kurzfristig absagte. Auch in Washington und Davos wäre er gefragt worden, wie er zu der These des britischen Journalisten David Pilling stehe, wonach „corrupt, ailing Eskom is a picture of South Africa in miniature“. Zutreffend stellte der „Economist“ daher fest: „The party that fought apartheid is now a patronage machine draped in revolutionary rhetoric.“ (Financial Times, 2. März 2023)
Abstieg des ANC
Der 55. Parteitag des ANC machte Mitte Dezember 2022 die extreme Heterogenität der einstigen Befreiungsbewegung deutlich. Denn die aus der Provinz KwaZulu-Natal entsandten Delegierten schlossen sich zur „Taliban-Fraktion“ (im ANC) zusammen, „da auch sie bis zum Ende kämpfen würden“ (Daily Maverick, 25. Juli 2022). Kurze Zeit später schieden sie aus dem ANC aus und gründeten eine eigene Partei namens Umkhontu we Sizwe (MKP). Dies geschah als Ausdruck ihrer Militanz und in Anknüpfung an den Namen der Guerillaarmee des ANC gegen das Apartheid-Regime.
Gleichwohl wurde der Parteitag für Ramaphosa und seine oft korrupten Gefolgsleute zu einem Erfolg. Denn er wurde mit fast 60 Prozent der Stimmen im Amt des Vorsitzenden bestätigt. Auch unter den jetzt gewählten Mitgliedern des National Executive Committee (NEC), des höchsten Organs des ANC zwischen zwei Parteitagen, bekennt sich eine Mehrheit
zu Ramaphosa. Das gilt auch für die meisten Mitglieder des Führungsorgans „Top 7“.
Das verheerende Erbe ihrer 30-jährigen Herrschaft führte für die ANC/SACP/Cosatu-Allianz bei den nationalen Wahlen Ende Mai 2024 zu einem katastrophalen Ergebnis: Etwa ein Drittel der Wahlberechtigten ließ sich gar nicht erst registrieren. Von den abgegebenen Stimmen entfielen nur noch knapp über 40 Prozent auf die Allianz, knapp 22 Prozent auf die stärkste bisherige Oppositionspartei Democratic Allianz (DA), fast ein Viertel auf zwei Absplitterungen vom ANC, die sozialistische Partei Economic Freedom Fighters (EFF) und die MK-Partei, der Rest auf zehn überwiegend konservative Splitterparteien. Mit Ausnahme von EEF und MKP schlossen sie sich dann zu einem Government of National Unity (GNU) zusammen. Wie fragil dieses Bündnis ist, folgt schon aus der Tatsache, dass seine Mitglieder unfähig waren, einen Koalitionsvertrag zu schließen. Wahrscheinlich erschöpfen sich ihre Gemeinsamkeiten in der teils militanten Gegnerschaft zu EFF und MKP. Auch ist das Ausmaß der von der ANC/SACP/Cosatu-Allianz zu verantwortenden Zerstörungen zu unermesslich groß, als dass es dem GNU gelingen könnte, Südafrika wiederaufzubauen. Der liberale Zyniker R.W. Johnson hat Recht, wenn er den Kernsatz der Charter des ANC „The people shall govern“ um den Zusatz „or perhabs not“ ergänzt (BizNews, 3. Januar 2023).
Südafrika im Weltordnungskonflikt
Seit dem Machtwechsel im Mai 1994 wurde Südafrika in der internationalen Politik und selbst in den Spitzenmedien sträflich vernachlässigt. Das änderte sich schlagartig, als der russische Außenminister Sergej Lawrow Anfang 2023 die Kap-Republik besuchte und beide Seiten nicht müde wurden, ihre „exzellenten Beziehungen“ anzusprechen (Süddeutsche Zeitung, 18. Januar 2023). Großes Interesse wurde auch kurz darauf dem Marinemanöver Russlands, Chinas und Südafrikas vor der Hafenstadt Durban entgegengebracht. Südafrika konnte sich daran übrigens nur mit Patrouillenbooten beteiligen, da die in den letzten circa 30 Jahren u.a. in Deutschland gekauften Korvetten und U-Boote nicht mehr seetüchtig sind. Sie sind wie nahezu alles im „neuen“ Südafrika verlottert.
Nicht so sind, und das mag das Interesse Moskaus an dem durch und durch maroden Südafrika erklären, dessen reiche Vorkommen an strategischen Rohstoffen. Vielleicht wird Russland gelingen, was die Sowjetunion
nicht geschafft hat: die Gründung von ihm geführten russisch-südafrikanisch-simbabwischen Kartellen für herausragend wichtige Rohstoffe. Südafrika ist vielleicht bereits jetzt, wie der „Economist“ (25. Februar 2023) nach dem Manöver schrieb, „not so neutral / Under the ANC, the country is drifting into the Sino-Russian orbit.“
Danksagung: Der Verfasser widmet diesem Beitrag seinem verstorbenen Freund und steten Förderer Prof. Dr. Klaus Ritter, dem Gründer und über Jahrzehnte alles in ihr prägenden Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen / Berlin
Quellen
(1) Frhr. von der Ropp, K. (2021): Mit vereinten Kräften. Letzte Chance einer Stabilisierung des neuen Südafrikas. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 2021 14(3), S. 303-319, (306-307).
Dr. Klaus Frhr. von der Ropp
geb. 1938, Rechtsanwalt, 1975-2000 Leiter des Bonner/später Berliner Verbindungbüros der Stiftung Wissenschaft und Politik, jahrzehntelange Erfahrungen als Konsultant für Fragen des südlichen Afrikas